Vincent Peirani: Living Being IV
Der Akkordeonist Vincent Peirani, Bassist Julien Herné, Pianist/Keyboarder Tony Paeleman und Drummer Yoann Serra sind gemeinsam in Nizza aufgewachsen und haben schon vor eineinhalb Jahrzehnten den aus der Occitanie stammenden Sopransaxophonisten Emile Parisien in ihren hochmusikalischen Freundeskreis aufgenommen. Living Being hat Peirani dieses Quintett passenderweise getauft, das als organisch wirkender Klangkörper in seiner Gesamtheit mehr sein soll als die Summe aus fünf virtuosen Individualisten. Aber auch das Akkordeon, das längst im Jazz angekommen ist, kann sich zu einer Art Living Being entwickeln – zumindest, wenn es von Peirani gespielt wird.
Das Debütalbum dieser Formation ist 2015 erschienen, „Living Being II – Night Walker“ drei Jahre später, und nun „Living Being IV – Time Reflections“. Die Suche nach „Living Being III“ kann man sich sparen, denn dieses damals schon weit fortgeschrittene Albumprojekt ist der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen, und das Quintett hat sich entschlossen, auf eine nachträgliche Realisierung – verbunden mit zwiespältigen Gefühlen und schmerzhaften Erinnerungen an diese entbehrungsreiche Zeit – zu verzichten. Ein starkes Statement, das perfekt zu Peirani passt, der stets gerne am Puls der Zeit spielt und aus dem die kreativen Ideen ohnehin nur so heraus zu purzeln scheinen. Wie schon auf den Vorgängeralben fusioniert er – jegliche stilistischen Grenzen souverän ignorierend – zeitgenössischen Jazz, Pop, Rock, Worldmusic und Fusion zu einem energetischen, dynamischen Gruppen-Sound, der jederzeit klar macht, wie gut die Chemie unter allen Beteiligten stimmt. So schafft er es im nachdenklichen Stück „Phantom Resonanz“ mühelos, Elemente aus der polyphonischen Musik des franko-flämischen Komponisten Cipriano de Rore aus dem 16. Jahrhundert mit dem zukunftsweisenden Piano-Jazz Michael Wollnys zusammenzubringen, der zu Peiranis bevorzugten musikalischen Partnern zählt. Dies gilt auch für den afrikanischen Gitarristen Lionel Loueke, dem er die sich stetig steigernde, lässig pulsierende, mit Breaks und Rhythmuswechseln gespickte Hommage „L.L.“ gewidmet hat.
Die hypnotischen Beats von „Physical Attraction" wirken wie eine Reminiszenz an die Dub- und Ballroom-Szene der 70er-Jahre, während bei „Le Cabinet des Énigmes“ die eingängige Melodie gefangen nimmt, und „Nach El Vlado“ zuerst mit mazedonisch inspiriertem Balkan-Drive in die Beine fährt und später auf witzig Art verfremdet wird. Im Zentrum der neuen Peirani-Kompositionen steht aber das Titelstück „Time Reflections“, eine dreiteilige Suite, deren Sätze „Clessidra“, „Better Days“ und „Inner Pulse“ wiederum jeweils aus drei bzw. vier Teilen bestehen. Ein rund 23 Minuten langes, perfekt strukturiertes, ungemein detail- und abwechslungsreiches Hörvergnügen, farbenreich, vielschichtig und stimmungsvoll. Poetischer Chamber-Jazz, der zwischendurch durchaus auch Druck entwickeln kann. Besonders interessant sind auch immer Vincent Peiranis Ausflüge in die Pop- und Rockgeschichte. Verblüffte er bei den ersten beiden Living Being-Alben mit Kompositionen von Led Zeppelin, Jeff Buckley und Sonny Bono, so vereint er auf dem aktuellen Album in der „Bremain Suite“ gleich drei legendäre Hits: Den 1981 aus einer Kollaboration der Band Queen mit David Bowie entstandene Rocksong „Under Pressure“, „Glory Box“ vom legendären, stilbildenden 1994-er Trip-Hop-Album „Dummy“ der Band Portishead, und den Beatles-Klassiker „I Want You (She’s So Heavy)“ vom 1969-er Album „Abbey Road“. Welch lässiger Trip in die Vergangenheit – vor allem aus der an der Gegenwart geschärften Perspektive Vincent Peiranis genossen, der diese Meilensteine der Populärmusik ganz zu seinen eigenen macht. (ACT)
Konzert-Tipps: Living Being spielen am 8.11.25 beim Trans4-Jazz-Festival in Ravensburg, Peirani und Parisien gastieren im Duo am 23.11.25 im Industrie36 in Rorschach.