Vijay Iyer / Linda May Han Oh / Tyshawn Sorey: „Compassion“ Peter Füssl · Mär 2024 · CD-Tipp

Der indischstämmige New Yorker Pianist und Komponist Vijay Iyer hat mit bislang gut zwei Dutzend Alben unter eigenem Namen ein stilistisch und konzeptuell ungemein vielschichtiges Oeuvre vorzuweisen – realisiert mit unterschiedlichsten Kooperationspartner:innen von Rudresh Mahanthappa über Stephan Crump, Marcus Gilmore, Graham Haynes, Wadada Leo Smith oder Craig Taborn bis zu Arooj Aftab und Shahzad Ismaily. Der studierte Mathematiker und Physiker zählt sowohl als Komponist als auch am Instrument zu den interessantesten Exponenten des Gegenwarts-Jazz. Seine ebenfalls vielbeschäftigten, aktuellen Trio-Partner – Drummer Tyshawn Sorey und Kontrabassistin Linda May Han Oh – zählen seit vielen Jahren zu den musikalischen Weggefährten Iyers und können ebenfalls auf eine Menge vielfältiger und spannender Musikprojekte verweisen.

Für das 2021 erschienene, vielgepriesene Debüt-Album „Uneasy“ konnten diese drei exzellenten Individualisten, die ihre Kräfte perfekt zu bündeln verstehen, also bereits auf einem reichhaltigen, gemeinsamen Erfahrungsschatz aufbauen – und das ist auch beim Nachfolger „Compassion“ permanent spürbar. Das intensive Spiel ist perfekt aufeinander abgestimmt. Tyshawn Sorey verwaltet auf sensible Weise Zeit und Raum, kommentiert, gibt Impulse und treibt kraftvoll voran, wenn Hochenergetisches gefragt ist. Auch Oh erweist sich durchwegs als gewiefte und einfallsreiche Rhythmikerin, übernimmt aber gerne auch mal die Melodieführung auf ihrem Tieftöner – „Panegyric“, „Where I Am“ oder „Ghostrumental“ sind schöne Beispiele dafür. Wen wundert‘s, dass sich Oh während ihres Studiums ausführlich mit Dave Holland beschäftigt hat?

„Compassion“ bedeutet zwar Mitgefühl, Iyers neun Kompositionen kommen aber keineswegs nur beschaulich oder nachdenklich daher, sondern sind vielmehr mit intensiven und spannungsgeladenen Momenten gespickt. Er treibt ein virtuoses Spiel mit gegensätzlichen Stimmungen und Farben, beweist ein exzellentes Händchen für haftenbleibende Melodien und eingängige Hooks und führt vieles auch auf eine spannende, etwas abstraktere Ebene. So startet das als Opener fungierende Titelstück mit einem knapp einminütigen hochsensiblen Schlagzeug-Solo, zu dem sich Bass und Piano mit sanften Tönen gesellen, ehe sich Spannung und Dramatik eindrucksvoll aufbauen und wieder verebben. „Arch“, das Erzbischof Desmond Tutu gewidmet ist, beginnt mit rollenden Pianotönen und unterschwellig pulsierenden Rhythmen und entwickelt sich zu einem rasanten, emotionalen Post-Bop-Stück. Die energische Up-Tempo-Nummer „Maelstrom“, das angespannte, mit Dissonanzen spielende „Tempest“ und „Panegyric“ hat Iyer anlässlich einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Corona-Pandemie geschrieben. Drei andere Stücke – das hochenergetische „Ghostrumental“, das zwischen Nachdenklichkeit und kraftvoller Aufgeregtheit pendelnde "Where I Am“ und die beschaulich groovende Solo-Piano-Nummer „It Goes“ – entstanden 2022 für das von der 1986 geborenen Chicagoer Soziologin, Essayistin, Schriftstellerin und Poetin Eve L. Ewing inspirierte Ensemble-Projekt „Ghosts Everywhere I Go“.

Nicht weniger spannend sind die Fremdkompositionen. Eine fast achtminütige, flott voranpreschende Version von Stevie Wonders „Overjoyed“ ist zugleich eine Hommage an den vor drei Jahren verstorbenen Chick Corea, der das Stück bei seinem letzten Live-Stream präsentiert hatte – Iyer hat es sogar auf dem damals von Corea verwendeten Flügel eingespielt. „Nonaah“ aus der Feder der Avantgarde-Legende Roscoe Mitchell findet sich auf dessen gleichnamigem, 1977 erschienenen Album gleich in drei sehr unterschiedlichen Versionen und drei Jahre davor schon auf einem Album des Art Ensemble of Chicago – Vijay Iyer ehrt seinen Mentor mit einer zweieinhalbminütigen Version, die den Geist des Free-Jazz voll aufleben lässt. Ziemlich genau gleich alt, aber musikalisch völlig anders gelagert ist John Stubblefields, von Mary Lou Williams bekannt gemachte Komposition „Free Spirits“, das Iyer hier mit einer Reminiszenz an Geri Allens „Drummer’s Song“ kombiniert, das sich auf dem Debütalbum des Trios in einer ausführlichen Version findet. Auf „Compassion“ wird das Mitgefühl stets voller Leidenschaft zelebriert – ein Album für Kopf und Bauch.

(ECM/Universal)

Dieser Artikel ist bereist in der Print-Ausgabe der KULTUR März 2024 erschienen.

 

 

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