Verloren im System
Kafkas „Amerika“ als verstörend aktuelles Bühnenspektakel am Vorarlberger Landestheater
Dagmar Ullmann-Bautz ·
Mai 2025 · Theater
Wie relevant Franz Kafkas „Amerika“ auch mehr als 100 Jahre nach seiner Entstehung ist, zeigte die gestrige Premiere am Vorarlberger Landestheater eindrucksvoll. In der Inszenierung von Niklas Ritter entfaltet sich ein dreistündiges, intensives Panoptikum, das mit klugen Regieideen, einem herausragenden Ensemble und mitreißender Musik fesselt.
Kafkas Vision trifft Gegenwart
Kafka erzählt in „Amerika“ die Geschichte des jungen Karl Roßmann, den seine Familie nach einem Skandal nach Übersee verbannt. Dort gerät er in eine fremde, unverständliche Welt. Die Erzählung entlarvt den „American Dream“ als Illusion: Statt Chancen und Aufstieg erfährt Karl Ausbeutung, soziale Kälte und Entmündigung. Obwohl ohne direkte Gegenwartsbezüge, wirkt Kafkas dystopische Allegorie erschreckend modern: geprägt von Entfremdung, Hierarchien, fehlender Teilhabe und ungleicher Machtverteilung. Kafka zeichnet ein System, das Menschen vereinzelt, vereinnahmt und entwertet – eine Kritik, die sich leicht auf heutige gesellschaftliche Dynamiken übertragen lässt, nicht nur in den USA.
Der zerplatzte Traum von einer neuen Welt
Karl kommt mit kindlicher Hoffnung und Offenheit in New York an – doch Schritt für Schritt verliert er die Kontrolle über sein Leben. Er wird zum Spielball fremder Mächte, durchläuft eine Arbeitswelt, die Menschen wie beliebig ersetzbare Rädchen behandelt. In Zeiten von Gig-Economy, prekären Beschäftigungsverhältnissen und digitaler Überwachung wirkt Kafkas Vision geradezu prophetisch. Politische Spannungen, wirtschaftliche Unsicherheit und ein System, das das Individuum oft übergeht, sind heute Realität. Bewegend und punktgenau ist die Szene, in der Karl zum Schluss in einem Koffer verstaut auf eine letzte Reise geht – ein eindrucksvolles Bild völliger Entmündigung.
Aufwühlende Inszenierung – Tempo, Witz und Überforderung
Niklas Ritter hat Kafkas Roman dramatisiert und in einer kraftvollen Szenenfolge auf die Bühne gebracht. Das Ergebnis ist eine explosive Mischung aus Emotionalität, Komik, Skurrilität und Tempo. Ob die lautmalerische Ankunft in Amerika, slapstickhafte Schlägereien, die Badeszene als Schattenspiel oder comicartige Telefonszenen – jede Idee überzeugt für sich, doch in der Summe ist es manchem vielleicht zu viel. Denn dieser Abend gönnt keinem eine Verschnaufpause – weder dem Publikum noch dem Ensemble.
Fantastisches Ensemble und treibende Musik
Das Ensemble packt alles aus, was Schauspielkunst zu bieten hat. Nurettin Kalfa brilliert als Karl Roßmann mit beeindruckender Authentizität und Präsenz. Elzemarieke de Vos begeistert mit ihrer explosiven Stimme und verleiht jeder Figur – ob Brunelda, Oberkellnerin oder Johanna – einen einzigartigen Charakter. Isabella Campestrini überzeugt in jeder Rolle, fesselt unter anderem als Kapitän, als Klara und ganz besonders als Therese. David Kopp zeigt erneut sein enormes komödiantisches Talent, außerordentlich seine Darstellung des Oberkellners neben Onkel Jakob und vielen anderen, Roman Mucha, ein lautmalerisches Genie, bereitet bei jedem Auftritt, sei es als Heizer, Delamarche oder Mack, große Freude. Last but not least als Robinson, „die Frau, die eigentlich ein Mann ist“, als Oberkassierer oder Pollunder, als Schauspieler oder Sänger schlicht umwerfend: Nico Raschner.
Die Musik von Oliver Rath ist ein eigenständiger Motor der Inszenierung: dynamisch, rhythmisch treibend, aber auch zart und atmosphärisch. Live gespielt von Rath selbst sowie Marcello Girardelli, Martin Grabher und Aris Kapagannidis entsteht ein klanglich dichtes, theatral wirksames Geflecht – auch dank der Schauspieler:innen, die Teil des auditiven Erlebnisses sind.
Verwandelbare Bühne, fantastische Kostüme
Karoline Bierner hat eine wandelbare, offene Bühne geschaffen, auf der verschieden große Schrankkoffer zu multifunktionalen Requisiten werden – begehbar, bespielbar, überraschend vielseitig. Auch ihre fantastischen Kostüme bestechen durch Kreativität und stilistische Pointiertheit. Tom Barcal sorgt mit seinem Lichtdesign für eine emotional dichte, atmosphärisch bewegte Szenerie.
Irritation und Begeisterung
Kafkas Amerika wurde vom Vorarlberger Landestheater fulminant umgesetzt – intensiv, schrill, leidenschaftlich, packend und über weite Strecken höchst unterhaltsam. Dass einige Zuschauer:innen während der Pause gegangen sind, irritiert, denn Theater darf, es soll herausfordern, nicht nur unterhalten, sondern auch zum Denken, zur Auseinandersetzung anregen. Und genau das gelingt diesem Abend. Der verdiente Jubel am Ende galt einem grandiosen Ensemble, den Musikern und einem Regieteam, das sich mutig in den kafkaesken Kosmos geworfen hat.
Vorarlberger Landestheater: „Amerika“ von Franz Kafka
weitere Vorstellungen: 20.5. sowie 15./18./20./21.6.,19.30 Uhr, Großes Haus
Theater am Kornmarkt, Bregenz
https://landestheater.org/spielplan/detail/amerika/