V# 39 „Ich will Berührung“, herausgegeben von Sabine Benzer und Marie-Rose Rodewald-Cerha Manuela Cibulka · Jul 2023 · Literatur
Küsschen links, rechts – einmal oder zweimal? Ein Händeschütteln – oder besser doch nicht? Beides seit „Babyelefant“ zumindest keine Selbstverständlichkeit mehr. Ein „Hallo“ aus der Ferne reicht doch allemal, und damit bleiben für viele die noch letzten Berührungen des Alltags aus. Diesen kleinen aber auch größeren Berührungen widmet sich die V#39, herausgegeben von literatur : vorarlberg und der Stadt Feldkirch aus Anlass des derzeitigen „Pflege“-Schwerpunktes von „Erbe und Vison“ im Palais Liechtenstein.
Die Publikation V# des Autor:innenverbandes bereitet ein- bis zweimal jährlich Schriftsteller:innen eine Plattform. Sowohl die Themenstellungen als auch die Herausgeber:innen variieren. Dieses Mal zeichnen Sabine Benzer und Marie-Rose Rodewald-Cerha für den Inhalt verantwortlich. Zwölf Autor:innen und mit Lorenz Helfer auch ein bildender Künstler wurden geladen, mit ihren Betrachtungen einen Beitrag zu leisten, „der nicht unbedingt von pragmatischen Maßnahmen geprägt ist, sondern die nötige Auseinandersetzung auf eine kreative Metaebene führt, dadurch neue Perspektiven eröffnet, die eingefahrene gesellschaftliche Praxis hinterfragt und neue Sichtweisen provoziert“.[1] Und diese Sichtweisen sind angesichts des Wandels, der Unsicherheiten und der vielen offenen Fragen und Herausforderungen in Bezug auf Pflege und Fürsorge für Menschen mit besonderen Bedürfnissen nicht nur notwendig, sondern in dem vorliegenden Fall auch mutmachend und wohltuend. Lorenz Helfers Arbeiten stehen am Anfang jeder Geschichte – Figuren, die sich und auch die Leser:innen berühren.
Von Alfare bis Spalt
Titelgebend für den seit Juni aufliegenden Band ist die Zeile eines Gedichtes der Künstlerin Ianina Ilitcheva: „Ich will Berührung"[2], und diesen Wunsch tragen in den zwölf Geschichten Menschen in sich, die zum Teil unterschiedlicher nicht sein könnten.
Ist es bei Stephan Alfare der 102-jährige Fußballfan Rudi, der seine große Liebe bereits vor Jahren verlor und nun nur mehr seiner Hauskrankenpflegerin ein Liedchen trällert („Non, je ne regrette rien“), begegnen wir später bei Wolfgang Wörth einem um nur wenige Jahre jüngeren Herren mit dem Namen Gennadi Mikhailowitsch Aleksejew – ehemals sowjetischer Agent und heute Bewohner des Altersheims in Lustenau. Mit seinem Pfleger Hugo hat er Glück, denn dieser lässt nicht nur dessen Geschichte weiterleben, sondern versucht diese auch zu verstehen.
Weniger abenteuerlich, aber umso feinfühliger entwickelt sich die Beziehung zwischen Gabriele Bösch und einer Dame namens Frau Glück, ehemals Ärztin, heute selbst auf Betreuung angewiesen. Es dauert einige Begegnungen, bis es hier zur ersten Berührung kommt: „Ich strecke meine offene Hand über den Tisch zu ihr hinüber. Sie legt die ihre hinein und ich drücke sie. So bleiben wir ein Weilchen sitzen und spüren dieser ersten Berührung nach". (S. 43) Wunderbar schließt diese Geschichte mit dem Wissen, dass die Freundschaft der Frauen mehr als vier Jahre andauerte.
Die Hände seiner Eltern, erst jene des sterbenskranken Vaters und dann jene der Mutter, hält Wolfgang Hermann in seinem kurzen Text mit dem schönen Titel „Die Brücke der Hand“. Brücken zwischen Menschen aber auch zwischen dem Hier und Dort: „Die Verbindung unserer Hände hielt bis zuletzt, als der Arzt das Morphium erhöhte. Und dann griff ihre Hand in eine andere Welt.“
Besonders spannend ist der Zugang der jüngsten Autorin in der Runde. Die Verse von Laura Nußbaumers „Du brauchst keine Handschuhe“ sind gespickt mit Wesen unterschiedlichster Art, alle irgendwie missverstanden, traurig, verärgert oder auch zu kurz gekommen. Ein unterversorgter Goldfisch, eine weinende Ziege, Hühner, denen Qualität abverlangt und ein Affe, dessen Arbeit zu wenig gewürdigt wird, und je öfter man die Zeilen liest, desto mehr findet man Verstecktes dazwischen.
Nicht nur die Autor:innen, auch die Hauptfiguren der Geschichten sind jeden Alters. Auf die Suche nach der jungen slowakischen Pflegekraft begeben wir uns mit André Pilz, um ganz nebenbei mit vorherrschenden Ressentiments konfrontiert zu werden.
Bei Willibald Feinig und auch bei Amos Postner sind es jeweils junge Frauen, die durch einen Unfall einerseits entstellt, andererseits auf Pflege angewiesen sind. Was heißt es, nur mehr von Berührungen zu träumen, mehr als Beobachtende denn als Fühlende danebenzustehen? Was heißt es, verlassen, anstatt gepflegt zu werden und was wiederum löst das bei denen, die sich nicht der Verantwortung stellen, aus?
Auch Birgit Rietzler lässt dazu zwei Frauen sprechen. Die alte Rosa und die junge Bredica, eingepfercht in unverrückbare Umstände, diese annehmend in dem Wissen, gegenseitig aufeinander angewiesen zu sein. Nicht nur durch die Einbindung dialektaler Rede wird vielen Leser:innen der beschriebene, unaufgeregte Alltag nicht unbekannt sein.
Die Verantwortung der gegenseitigen Pflege in Form von Mitgefühl und Gerechtigkeit fordert Veronique Homann. In ihrem aufwühlenden Text voller Kritik an der nicht gelebten sozialen Verantwortung erzählt sie von den vielen kranken Seelen, entstanden durch das „Als“ und „Wenn“. „Als erstes erkrankte die Seele des Kindes, dann dessen Körper. […] Wenn das Milieu nicht wäre […] Wenn die Gesellschaft verstünde.“ (S. 82 ff.)
Das Dutzend komplett macht Lisa Spalt mit ihrem Text, gerichtet an die „herzigen Brüder". In ihrer ganz eigenen Art, Dinge wortgewaltig und dennoch nüchtern zu benennen, geht es in dem von ihr beschriebenen Universum herrschender Psychopathie neben Taufe und Dreifaltigkeit sowohl um Nächstenliebe als auch um die Liebe zu sich selbst: „Wenn du die Pflege deiner selbst nicht zumindest interimsmäßig übernimmst, merken die Systeme sofort, dass du nie über irgendwelche Care-Credits verfügt hast.“ (S. 175)
Die Pflege, oft nur in Bezug auf Krankheit und/oder Alter verstanden, erhält somit jene Dimension, die ihr gebührt, und deshalb gehört das letzte Wort in dieser dringenden Empfehlung, in nächster Zeit zu diesem Buch zu greifen, Laura Nußbaumer (S. 120):
Also denke ich daran
wie ich daran denke
und verzweifle, aber das Schreiben
dieser Zeilen ist meine Selbstpflege.
1] Sabine Benzer und Marie-Rose Rodewald-Cerha im Vorwort
[2] Ianina Ilitcheva: @blutundkaffee. Frohmann Verlag, Berlin 2017
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juli/August 2023 erschienen.
V#39 Ich will Berührung. Hrsg. v. Sabine Benzer u. Marie-Rose Rodewald-Cerha, Feldkirch, literatur : voralberg 2023, ISBN 978-3-9503808-7-3, 191 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-9503808-7-3, € 21