unartproduktion: „Schundheft Nr. 46“ und „1001 Heimat Märchenbuch“
Der Verlag unartproduktion war wieder mal ungemein produktiv: Ein Schundheft sowie ein druckfrisches Märchenbuch richten Blickwinkel auf das, was vordergründig untergeht.
Florian Gucher · Aug 2023 · Literatur

Die Publikationen sind Beispiele, wie im unkonventionellen, doch erfrischenden Verlagsprogramm Nostalgie und Innovation einhergehen: Führt „Pilgerreise nach Italien“ mit Klappkamera, Stift und Papier vor, dass es keine High-Tech-Mittel benötigt, um schöne Bilder zu kreieren, ist der mit QR-Codes bestückte Märchenband das erste Werk des Verlags, das durch Scannen der Codes auch als Hörbuch abgespielt werden kann.

Lies (keinen) Schund! – vom Hinterfragen und Weiterdenken

Das aktuelle Schundheft Nr. 46, eigentlich eine Fotopublikation, führt uns auf eine falsche Fährte. Ein an den Style der 60er angelehntes Heftcover mit Abbildung eines Kartons der ungarischen Foto-Manufaktur FORTE, auf dem Titel und Untertitel handgeschrieben mit Permanentmarker angefügt wurden, erweckt den Anschein, es würde um alte Fotografien gehen. Doch so verstaubt sind die festgehaltenen Erinnerungen des Bandes nicht, wurden sie doch erst kürzlich erlebt. Beim Durchblättern wird auch klar, was mit den im Untertitel angekündigten „nicht gemachten Fotos“ gemeint ist. Es sind kurze Texte, die lediglich beschreiben, was auf dem Foto, das als solches gar nicht existiert, zu sehen sein sollte. Bereichert werden sie dann mit sieben geknipsten Fotos. Herausgeber Ulrich Gabriel hat sich einen Gag erlaubt. Ironisch entreißt er in Kooperation mit den Kunstschaffenden Oliver Heinzle und Louis Girardelli, sowie Gerhard Klocker (Zusammenstellung) und Yvonne Rüscher (Layout), dem eigentlichen Verständnis eines Bildbandes die Bodenhaftung. Anders gesagt: Er überträgt es auf ein anderes Medium und erweitert den häufig auf das Visuelle reduzierten Begriff der Fotografie mit der poetischen Dimension.
Solche Spielereien sind bei unartproduktion keine Seltenheit. Dass die 2012 von Ulrich Gabriel, aka GAUL, eingeführten Schundhefte provokant Dinge auf den Punkt bringen und oft irritieren, liegt dem Format zugrunde. Nicht umsonst heißen die Schundhefte so, wie sie heißen. Sie referieren einerseits auf Schund und Schmutz und damit auf die ihnen nahestehende Kunstbewegung „Arte Povera“, weil das im Postkartenformat herausgegebene Heft auch Versuch ist, Kunst mit Alltäglichem zu machen. Andererseits beziehen sie sich ironisch auf die Schundliteratur als jugendgefährdete Lektüre, indem sie gerade das nicht sind, aber auch gewöhnliche Kost nicht sein wollen. Ferner lässt das Format selbst eine rasche, verschlissene, weil auf einfache Mittel fußende Publikation ohne lange Vorlaufzeit zu: „Es ist die Intention, schnell auf Projekte von Künstler:innen reagieren zu können“, so Gabriel. Auch der Schwenk zu alten Groschenheften liegt nicht weit. Zielen die Hefte aufs breite Volk ab, wurden sie – zumindest bis Corona und die Teuerungswelle dazwischenfunkte – zu einem Spottpreis abgegeben und beinhalten randständige Themen in Literatur, Fotografie, Illustration und Grafik, die ansonsten auf der Strecke bleiben.
Übrigens gibt es in Bezug auf die angedrohte Klage von Russmedia (auf dem Cover des letzten Schundhefts war eine Collage mit dem Schriftzug des Boulevardblatts „Wann & Wo“ abgebildet) erfreuliche Nachrichten seitens des Verlages: „Wir haben uns mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, weil ein solches Vorgehen die künstlerische Freiheit massiv angegriffen hätte. Zum Glück ist der ORF darauf eingegangen, wodurch die Klage zurückgenommen wurde.“

Spielräume des Analogen

Präsentiert werden in „Pilgerreise nach Italien“ mit dem 1976 geborenen Archivar Heinzle und dem jungen Haudegen Girardelli zwei Künstler, die sich in einem Falle zu Fuß, im anderen Falle mit Rad auf Bußgang begaben und ihre Erfahrungen dokumentierten. Bemerkenswert ist der Zugang der beiden nicht ganz konformen Pilger: Da man sich auf einem solchen Jakobsweg zwei Mal überlegen muss, was als Gepäck essentiell ist, da jedes Gewicht eine zusätzliche Bürde bedeutet und man sowieso mehr im Moment stehen sollte, dachte sich Heinzle, er nehme nichts anderes als Stift und Papier und kreiere so seine individuellen Fotos. Was das Gewicht angeht, hat sich Louis Girardelli mit schwerer Balda Pronto Klappkamera vom Flohmarkt zwar nicht zurückgehalten, doch war auch sein Erleben auf den Augenblick gerichtet. Hier ist wichtig zu erwähnen, dass der 2000 geborene Fotograf, der einer zufälligen Begegnung verdankend die Möglichkeit bekam, seine Fotos im Zuge des Heftes öffentlich zu publizieren, alles auf der Reise analog gemacht hat. Das zieht sich vom Fahrrad bis zur Kamera durch. Auch lässt der geringe Speicherplatz sowie der Notizblick den Wert des Großen im Kleinen finden: Im Bändchen sind nur etwas mehr als zwei Dutzend beschriebene und eine Handvoll geknipste Fotos, wobei die Text-Bild Aneinanderreihung ein gut durchdachtes kompositorisches Ganzes bildet. Die Ebenen verschränken sich. Manchmal ist man fast geneigt zu sagen, als bilde ein Foto Girardellis Heinzles zunächst Beschriebenes ab, sehe es aus anderer Perspektive. Wie maßgeschneidert und doch zufällig vermengt sich der Inhalt zu einem poetischen Fotobuch, das nach links und rechts blickt, sich der heute gängigen massenhaften Produktion radikal entzieht und weniger in der Sphäre des Glaubens als im existentiellen Sinne „back to the roots“ geht.
Weil die beiden Künstler mit der organisierten Religion nicht ganz so viel am Hut haben, geht es dann gerade um diesen fremden Blick. Von Klöstern, Kruzifixen, Kreuzwegen und christlicher Gastfreundschaft ist zwar die Rede, auch vom Eintreten in die christliche Blase, nicht aber von der eigenen Praxis kirchlicher Riten. Ein Atheist auf Pilgerreise ist halt gerade das, was unartproduktion in einem Schundheft geradezu programmatisch interessiert. Subtil wird’s gesellschaftskritisch, weil im Hintergrund die Frage mitschwingt, ob sich Atheismus und Bußgang überhaupt vereinen lassen. Wenn ein Bußgang immer schon religiös vereinnahmt wurde, darf es dann nicht auch Wege abseits davon geben?

Kulturelle Differenz als Schlüssel

Das „1001 Märchenbuch aus 25 Ländern“ schließt an die Idee kultureller Vielfalt an. Märchen aus Zuwanderungsländern wie Afghanistan, Syrien, Türkei, Ghana und Ukraine sollen Vorstellungen, wie wir sie kennen, durchbrechen, weil es nicht nur Grimm und Andersen gibt: „Es wurde viel Wert auf die Sichtbarmachung der Diversität von Kultur(en) gelegt, weil jede Heimat ihre eigene Sprache besitzt. Die Märchen widerspiegeln das, wobei sie sich dann doch auch wieder in ihrer Struktur ähneln“, so Gabriel. Demzufolge ziehen sich Prinzessinnen, Scharlatane, Froschkönige, Schlangen, Drachen und Zarensöhne durch die Länder hindurch. Weil Märchen im ursprünglichen Sinne Erzählliteratur sind, hat sich das Verlagsteam etwas besonderes einfallen lassen. Jedes Märchen wird von einer Erzählstimme dargeboten. Diese kann durch QR-Code gescannt und auf dem Endgerät abgespielt werden. Womit unartproduktion wie von der Nostalgiesehnsucht erwacht, um sich wie in einer Zeitkapsel in die Zukunft zu hieven.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juli/August 2023 erschienen.

Schundheft Nr. 46: „Pilgerreise nach Italien“ mit 23 nicht gemachten Fotos von Oliver Heinzle und 7 gemachten Fotos von Louis Girardelli, unartproduktion, Mai 2023, 70 Seiten, geheftet, ISBN 978-3-902989-88-8, € 9,90

„1001 Heimat Märchenbuch“, unarproduktion, 2023, 166 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-902989-69-7

www.unartproduktion.at

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