Theaterprozession in Bildstein – „Geschwister“ von Theater Mutante
Ein Abend, der das Publikum buchstäblich mitnimmt
Dagmar Ullmann-Bautz · Apr 2025 ·

Zwei Frauen, ein kleines Segelschiff, ein Musiker, ein Chor – und mittendrin ein Publikum, das mehr erlebt als zusieht: Der kleine Wallfahrtsort Bildstein wurde am Premierenabend von „Geschwister“ zur Bühne einer besonderen Art von Prozession. Das Theater Mutante unter der Leitung von Andreas Jähnert ist bekannt für Produktionen, die sich dem klassischen Theaterverständnis entziehen und stattdessen immersiv-performative Erlebnisse schaffen – auch dieses Mal wurde das Publikum eingeladen, sich einzulassen. Und gefordert.

Ankommen im Spiel – und gleich mittendrin

Schon der Empfang im Basilikasaal lässt erahnen, dass es um mehr geht als um eine lineare Erzählung. Singende, essende, lachende Menschen begrüßen die Ankommenden – Gemeinschaft wird nicht nur thematisiert, sondern inszeniert. Teppiche markieren den Spielraum, Grenzen verschwimmen. „Wer will, darf sich frei bewegen“, heißt es zu Beginn. Ein Versprechen – und eine Zumutung.

Zwischen Mythen und Missverständnissen

Was folgt, ist eine Collage aus Szenen, Fragmenten, Liedern und Erinnerungsfetzen. Ina Jaich und Lisa Perner verkörpern ein widersprüchliches Freundinnen-/Schwesternpaar zwischen Alltag und Mythenbildung. Während Jaich mit Satzsplittern und süßer Geste verwirrt, füllt Perner mit kraftvoller Stimme den Raum – ein starker Kontrast, der jedoch nicht immer trägt. Der ChorLust Lustenau liefert stimmliche Höhepunkte, der Musiker Peter Piek steuert atmosphärische Sounds und Klangflächen bei. Immer wieder durchbricht Musik das Geschehen, hebt es kurz an – bevor es wieder ins Ungefähre gleitet.

Pilgerzug mit Segelboot und Zwischentönen

Irgendwann beginnt der Aufbruch. Die Zuschauer:innen folgen den Schauspielerinnen nach draußen – zur nächsten Szene, zur nächsten Station. Die Prozession führt über Sportplatz, Basilika-Zufahrt, Wiese und schließlich zur quadratisch gedeckten Tafel. Eine scheinbar absurde Liturgie entfaltet sich: Marienerscheinungen, Heilungen, Geldschein-Decken, Erinnerungen an bessere Zeiten. Gesellschaftskritik wird laut, mit ironischer Spitze, manchmal leider auch mit erhobenem Zeigefinger. Themen wie Spiritualität, Populismus, Kapitalismuskritik, Rollenbilder und Heimat überlagern sich – nicht immer klar, aber mit Nachdruck.

Ein Spiel mit Form und Erwartung

Formal setzt die Inszenierung auf Brechung: Die vierte Wand wird eingerissen, das Theater erklärt sich selbst, zitiert sich, spottet über sich. Das erzeugt Momente der Reflexion – lässt das Geschehen aber auch streckenweise beliebig wirken. Die Mischung aus Improvisation, Satire und Pathos verlangt viel vom Publikum: Geduld, Offenheit und eine gewisse Bereitschaft, sich auf Widersprüchliches einzulassen. Manches bleibt rätselhaft – vielleicht auch gewollt.
Die Ausstattung von Anna-Amanda Steurer überzeugt durch feine Details im Großen und Kleinen, die Texte von Christian Kühne basieren auf Gesprächen mit Bewohner:innen des Ortes – ein schöner Gedanke, der in der Umsetzung jedoch gelegentlich diffus bleibt. Die Regie von Andreas Jähnert, sonst oft durch Stringenz und mutige Klarheit bestechend, wirkt in dieser Arbeit bewusst fragmentiert – manchmal aber auch ein wenig zerfasert.

Ein offenes Ende – im doppelten Sinn

Und so weiß man am Ende gar nicht genau, wann das Stück wirklich endet. Der Applaus kommt zögerlich, fast erleichtert, als wolle man sich gemeinsam aus einer vagen Erwartung befreien. Die Hände sind kalt – der Kopf voll. Und während die Sonne spektakulär untergeht über dem Bodensee, bleibt das Gefühl: Etwas ist passiert. Etwas hat vielleicht nicht funktioniert. Aber Spuren hat es hinterlassen.

weitere Aufführungen:
18./20.4., 19 Uhr
Alte Fähre, Lochau
https://www.theatermutante.com/

 

 

 

 

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