Identitätsfragen, Sprachspielereien und verrückte Begegnungen im Uhrwerk – „Alice im Wunderland" am Vorarlberger Landestheater Walter Gasperi · Nov 2022 · Theater

Von spielfreudigen Schauspieler:innen über einfallsreiche Regie bis hin zu Bühnenbild, Kostümen, Lichtregie und Musik begeistert alles am Weihnachtsstück des Vorarlberger Landestheaters. Allein die – ganz im Stil eines Traums – fehlende Kohärenz der Handlung stört den Gesamteindruck.

Lewis Carrolls 1865 erschienenes Kinderbuch ist längst ein Klassiker. Als Vorlage diente es in den letzten 120 Jahren für rund 40 Filme, die Bandbreite erstreckt sich vom Pornomusical bis zur japanischen Animé-Serie. Der Maler Sigmar Polke ließ sich ebenso von dem Buch inspirieren wie der Musiker Tom Waits und einzelne Motive werden im Kultfilm „Matrix" ebenso rezipiert wie zuletzt im „Tatort": „Katz und Maus".

Identitätssuche eines Mädchens

Danielle Fend-Strahm versetzt mit den zahlreichen Zahnrädern von Matthias Strahms Bühnenbild das Publikum in ein Uhrwerk und immer wieder hört man auch das Ticken einer Uhr. Mit diesem Vergehen der Zeit korrespondiert auch eine Veränderung der Protagonistin, denn im Kern wird von einer Identitätssuche erzählt.
Gegängelt von ihren Eltern (Nico Raschner und Johanna Köstner), deren Biederkeit allein durch die herrliche Topffrisur treffend vermittelt wird, folgt Alice (Vivienne Causemann) so nur allzu gerne dem weißen Kaninchen (Luzian Hirzel) in eine Traumwelt. Wenn sie dabei durch eine Luke in die Tiefe absteigt, ist das sowohl als Abtauchen ins Unterbewusstsein als auch in eine Traumwelt zu lesen.
Diese Gegenwelt ist im Folgenden freilich auf der Bühne und in einem wunderbar poetischen Moment steigt Alice auf einer Strickleiter von der Bühnendecke herunter und hängt bald an zwei Seilen schwebend in der Luft. Großartig akzentuiert die Lichtregie von Arndt Rössler diesen Augenblick der Schwerelosigkeit.
Handfeste Identitätsfragen eines jungen Menschen stellen sich ein, wenn sich Alice fragt, wer sie denn ist und wie sie sich verändert. Intensiv vermittelt Vivienne Causemann mit ihrem Spiel die vielschichtigen, zwischen Angst und Einsamkeit, aber auch Entschlossenheit pendelnden Gefühle, von Alice.
Nach diesem ernsten und schwergewichtig-psychologischen Beginn entwickelt sich die Handlung aber bald zunehmend ins Komödiantische und Absurde. Spricht damit die erste Hälfte eher ein älteres Publikum ab, zielt die zweite Hälfte auf jüngere Zuschauer:innen ab.

Liebevoll gestaltete Figuren

In jedem Detail ebenso einfallsreich wie liebevoll sind dabei die einzelnen Figuren gestaltet, denen Alice auf ihrem Weg begegnet. Verlieben kann man sich in die Grinsekatze mit ihrem großen Kopf, ihren leuchtenden Augen und ihrer elektronisch verfremdeten Stimme oder in die knallbunten Kostüme (Matthias Strahm) von Hutmacher (Tobias Fend), Maus (Nico Raschner) und Hase (Johanna Köster). Deren Sprachspielereien sorgen nicht nur für herrlichen Witz, sondern können durchaus auch zu sprachphilosophischen Überlegungen anregen.
Nicht minder beeindruckend ist die Begegnung mit dem Hof der Herzkönigin (Dalibor Nikolic). Wenn diese sich vor allem fürs Köpfen begeistert, werden damit auch die Mächtigen persifliert, während man in der Begegnung mit dem Weißen Ritter, der zunächst von einem imaginären Helm befreit werden muss und dann auf einem imaginären Pferd über die Bühne reitet, eine Feier der Fantasie, die über die Realität siegt, lesen kann.

Poesie und mitreißende Spielfreude

Ein magischer Moment stellt sich dabei ein, wenn – wie hinter einem Schleier – bunte Papierschnipsel auf Alice herabfallen, während sich am Boden Bühnennebel ausbreitet. Gleichzeitig evoziert die Musik von Florian Wagner, die an Filmmusik des klassischen Hollywoods erinnert, immer wieder große emotionale Kinomomente.
Mitreißend ist aber auch, wie Tobias Fend, Luzian Hirzel, Johanna Köster, Dalibor Nikolic und Nico Raschner rasant immer wieder ihre Rollen wechseln – und in jeder Rolle überzeugen. Sie spielen nicht nur mit Verve, sondern harmonieren auch bestens bei den schnellen und vor Wortwitz sprühenden Dialogen. Ein Höhepunkt ist dabei zweifellos, wie das Trio Fend, Raschner, Hirzel das Schlaflied „Der Mond ist aufgegangen" variiert und als „Der Tee ist ausgegangen" singt.

Lose Szenenfolge statt kohärente Handlung

So beglückend aber auch Schauspiel und Inszenierung sind, so stört doch die mehr auf Einzelszenen als auf kohärente Erzählung setzende Handlung den Gesamteindruck etwas. Denn was als nachvollziehbare Identitätssuche beginnt, verliert gegen Ende doch zunehmend jeden kausallogischen Zusammenhang. Mehr oder weniger aus dem Nichts taucht hier plötzlich der Ritter auf und unklar bleibt doch auch, wieso Alice nun Königin werden soll. – Dies mit dem Traumcharakter der Erlebnisse der Titelfigur zu erklären ist doch etwas simpel, auch wenn sie am Ende freilich aus diesem Traum in die Realität zurückkehrt.

Vorarlberger Landestheater: „Alice im Wunderland“ nach Lewis Carroll, übersetzt und bearbeitet von Peter Siefert
weitere Vorstellungen: 27.11., 15 Uhr; 3.12, 19.30 Uhr; 4.12., 15 Uhr; 7.12., 19.30 Uhr; 8.12., 15 Uhr; 9.12., 19.30 Uhr; 11.12., 15 Uhr; 18.12., 15 Uhr; 3.1., 19.30 Uhr; 8.1., 15 Uhr sowie zahlreiche Vormittagsvorstellungen für Schulklassen

https://landestheater.org/spielplan/stuecke-1/detail/alice-im-wunderland/

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