Ein musikalisches Puzzlespiel mit Goethes „Faust" Anita Grüneis · Dez 2022 · Theater

Schon der Beginn war ungewöhnlich – die Regisseurin und Dramaturgin Julia von Sell trat vor das Publikum und erklärte, was es zu erwarten habe: Auf keinen Fall Goethes „Faust I" und „Faust II" in einer linearen traditionellen Erzählform. Die 17 000 Verse wären nun wirklich nicht an zwei Abenden zu stemmen. Der bekannte Schauspieler Thomas Thieme und sein Sohn Arthur Thieme machten aus dem berühmten Werk eine musikalisch-literarische Reise durch Goethes „Faust-Universum“.

Sonne tönt immer noch

Es begann laut und schnaubend. Während Arthur Thieme seine Gitarre mit einem Bogen nahezu malträtierte, ließ Thomas Thieme hörbar Luft ab und meinte dann: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“ – aus dieser Zueignung ging es direkt zu Gretchen in den Kerker, bei der es Tag wurde, der letzte Tag, der ihr Hochzeitstag sein sollte. Ihre Klagen wurden von zwei gleichzeitig gespielten Blockflöten begleitet, kurz darauf ein Gitarrensolo und die berühmten Worte: „Die Sonne tönt nach alter Weise“ und weitere Gesänge der Erzengel bis es dann zur Wette zwischen Gott und Mephistopheles betreffs der Verführbarkeit von Dr. Faustus kam. Daraus machte Thomas Thieme einen kleinen Einakter, denn egal, welche Rolle er sprach – er war immer authentisch und damit glaubwürdig. Sein spitzbübisches „Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern, und hüte mich, mit ihm zu brechen. Es ist gar hübsch von einem großen Herrn, so menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen“, war nicht nur ein kleines Zitaten-Bijou, es war zugleich ein gesellschaftliches Statement.

Manches Rätsel knüpft sich auch

Auch in anderen Kurzszenen ließ der Schauspieler die Worte Goethes mit seiner Kunst aufleben, ob er der verführerische Alte war, den Gretchens „Lippe rot, der Wange Licht“ entzückte oder ob er als Thales mit leichtem Entsetzen den Homunkulus beobachtet und meinte: „Auch scheint es mir von andrer Seite kritisch, er ist, mich dünkt, hermaphroditisch.“ Besonders eindrücklich war die Verbindung von Musik und Text in der „Walpurgisnacht“ mit gellenden Hexenschreien, sich überschlagenden Frauenstimmen, flackernden Irrlichtern und den Worten von Faust: „Dort strömt die Menge zu dem Bösen; da muss sich manches Rätsel lösen“, dem die Worte von Mephistopheles folgen: „Doch manches Rätsel knüpft sich auch. Lass du die große Welt nur sausen.“ Und schon war das Publikum wieder mitten in den Mysterien der Goethe’schen Welt. Eher subtil wurde hingegen die Szene im Zwinger mit Gretchens Gebet „Ach neige, du Schmerzensreiche“ dargestellt, bei der Arthur Thiele mit seiner Mundharmonika für feinste Schwingungen sorgte.

„Faust“ für immer

Die beiden Thiemes schafften mit Worten und Tönen einen eigenen Kosmos, in dem Goethes „Faust“ wie Puzzleteile aufschienen und scheinbar auf ihre neuerliche Zusammensetzung warteten. Das Verdienst dieser Aufführung war die Erkenntnis, dass Goethes „Faust“ tatsächlich ein zeitloses Mammutwerk ist, in dem alles nur Erdenkliche bereits gedacht worden war. Und das vor rund 200 Jahren. Ein Abend aber auch, der neugierig darauf machte, „Faust“ wieder einmal in Stille zu lesen. Dabei könnte es dann durchaus sein, dass die zarte Mundharmonika-Musik zur Kerker-Szene im Ohr wieder auflebt oder sich die Donnerbässe beim Auftritt von Mephistopheles melden. Da hatte der Komponist Arthur Thieme gut in die Worte hineingehört. Es könnte natürlich auch geschehen, dass die markante Stimme von Vater Thomas Thieme die eine oder andere Zeile vorzutragen scheint. Aber wie schon die Regisseurin eingangs meinte: „Stellen Sie sich einen großen Bus vor, den Sie auseinandernehmen. Sie werden staunen über die einzelnen Teile und wenn Sie die Teile dann wieder neu zusammensetzen, wird der Bus wahrscheinlich nicht mehr fahren, aber die Erfahrung wird sehr interessant gewesen sein.“ Womit sie recht hatte. Genauso war es mit dieser Version des „Faust“.

Eine weitere Folge dieses „Faust“ folgt am 2. Dezember um 20.09 im TAK.
www.tak.li

 

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