The Whale Gunnar Landsgesell · Apr 2023 · Film

Darren Aronofsky ("Black Swan") scheut extreme Erfahrungen nicht. In "The Whale" taucht er in die Isolation eines übergewichtigen Lehrers und rollt über eine Reihe von Begegnungen dessen Lebens- und Leidensgeschichte auf. Ein klaustrophobes Kammerstück zwischen Humanismus und Endzeit.

In einer abgedunkelten Wohnung begegnet einem der Koloss eines Menschen, schwitzend, das spärliche Haupthaar fettig, nahezu bewegungsunfähig – vom ersten Bild an wird das Publikum auf eine affektive Weise in die Mangel genommen. Auch die Situation ist prekär: Charlie, so heißt der Mann, befriedigt sich gerade selbst, als in der Wohnungstür ein fremder junger Bursche erscheint, der von einer evangelikalen Gruppe zur Missionierung unterwegs ist. Die Situation ist peinlich, man wird unvermittelt in ein Dilemma zwischen Fleischlichkeit, Moral und kurz darauf auch dem dräuenden Tod geworfen. Regisseur Darren Aronofsky, das bestätigt sich erneut, hat sich seit Beginn der extremen Erfahrung verschrieben. Ob in „Pi“, seinem aufsehenerregenden Erstlingsfilm, einem Neo-noir-Thriller, der in die Welten der Kabbala und Verschwörung eintauchte; mit „The Wrestler“ (wankend: Mickey Rourke), „The Black Swan“ oder „Mother!“. Für „The Whale“ hat Aronofsky nun ein Bühnenstück von Samuel D. Hunter in ein düsteres Feel-Bad-Kammerstück getaucht, von dem man sich längere Zeit (durchaus kalkuliert) abgestoßen fühlt, bis Aronofsky sich daran macht, über das Leiden seiner ambivalenten Hauptfigur sein Publikum zurückzugewinnen.

Kalkulierte Tour de Force

„The Whale“ ist eine Art Reise ins Innere von Charlie, im Fettkostüm ächzend und nicht allein von der Gravitation niedergedrückt von Brendan Fraser gespielt. Erst langsam werden die Umstände dieser bizarren, verstörenden Lebenssituation, in der sich Charlie, der Literaturlehrer befindet, deutlich. Seine Studenten unterrichtet er nur noch über Online-Meetings – er selbst mit deaktivierter Kamera. Am Anfang des Films gibt einem Aronofsky eine Perspektivhilfe mit: Herman Melvilles Roman „Moby Dick“, in dem es heißt, der Walfänger gehe davon aus, dass der Wal keinerlei Schmerz verspürt. Eine Passage, die einen als Geleitwort durch den Film führen soll. Denn die Welt, die man bald rund um Charlie kennenlernt, besteht zwar nicht aus Jägern, aber das Setting von „The Whale“ ist von einer derart klaustrophobischen Isolation bestimmt, dass einem jede Figur, die hier den Raum betritt, wie ein Invasor vorkommen muss. Der gesamte Film verlässt diesen Raum praktisch nie. So macht man sich also notgedrungen daran, die Ursachen für Schmerz und Leid des Protagonisten zu ergründen. Fast wie in einem Passionsspiel werden sie in den Körper dieses Mannes gesteckt, und mit jedem Gespräch tritt davon etwas zutage. So taucht nach dem jungen Missionar (Ty Simpkins), dessen innere Unruhe einen seltsamen Gegenpol bildet; die Krankenschwester und enge Freundin Charlies (Hong Chau) auf, die sich um dessen Gesundheit sorgt. Man erfährt, dass Charlie seine Familie verlassen hat, und mit dessen Tochter (Sadie Sink), die den defensiven Mann malträtiert, eröffnen sich weitere Fenster in die Vergangenheit. Mit seiner Ex-Frau (Samantha Morton) schließt sich schließlich ein Kreis. Aronofsky hält mit eisernem Griff die physische und psychische Dimension aufrecht und rückt bis auf wenige Momente – etwa als erwähnt wird, dass sich Charlie keinen Krankenhausaufenthalt leisten könnte, weil seine Versicherung dafür nicht reicht – auch nicht von seiner zentralen Figur ab. Dass diese Tour gleichermaßen die Empathie des Publikums einfordert wie ein billiges Melodram, dabei aber unheimlich wirksam ist, und schließlich einen recht komplexen Reigen an Fragen aufgeworfen hat, ist das Spezifikum von „The Whale“. Wer das durchsteht, wird belohnt.

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