Wenn das Gehirn zum Käfig wird – die belgische Choreographin Ann Van den Broek und ihre Compagnie WArd/waRD präsentierten bei „tanz ist surprises“ am Dornbirner Spielboden das Demenz-Stück „Zooming in on Loss“ Peter Füssl · Nov 2022 · Tanz

Nach dem letzten Black-out verharrte das Publikum minutenlang regungslos und in absoluter Stille und führte das auch fort, als die Lichter langsam wieder angingen. Erst als die Akteur:innen Marion Bosetti, Louis Combeaud und Gregory Frateur zurück auf die Bühne kamen, brandete Applaus auf. Eine irgendwie gespenstische Szenerie machte sich nach dem Finale von „Zooming in on Loss“ am Dornbirner Spielboden breit, was wohl die Gefühlslage der Zuschauer:innen zwischen Verstörtheit, Betroffenheit und Ratlosigkeit widerspiegelte. Ann Van den Broek und ihre Compagnie WArd/waRD stellten mit ihrer längst überfälligen Österreich-Premiere im Rahmen von „tanz ist surprises“, der Herbst-Ausgabe des von Günter Marinelli kuratierten tanz ist Festivals, eindrucksvoll unter Beweis, dass sie völlig zu Recht zu den experimentierfreudigsten und außergewöhnlichsten Ensembles Europas gezählt werden.

Die strikte Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne wurde am Spielboden völlig aufgehoben. Eine käfigartige, hochtechnoide Installation war als Epizentrum des Geschehens in der Raummitte aufgebaut, während die Stühle an den Außenwänden entlang in unregelmäßigen Abständen aufgereiht waren – wobei die Zuschauer:innen zusätzlich dazu ermuntert wurden, sich während der Aufführung durch den Raum zu bewegen und das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven mitzuverfolgen. Diesem Ratschlag folgten dann allerdings die wenigsten, denn das Spektakel nahm einen ohnehin an jedem Ort im Saal in Bann.

Gehirn sichtbar auf die Bühne gebracht

Das Gehirn ist die zentrale, multifunktionale, alles leitende und organisierende Schaltzentrale unseres Körpers. Normalerweise funktioniert dieses hochkomplexe Organ, das ja nicht nur für die uns bewussten Aktivitäten und die Sinneswahrnehmungen zuständig ist, sondern über das autonome Nervensystem auch die lebensnotwendigen vegetativen Funktionen koordiniert, ohne großes Zutun unsererseits. Wehe, wenn dieses Gefüge durch eine Krankheit wie die Demenz durcheinandergerät. Die aus Stahlstangen aufgebaute, mit unzähligen Schaltern, Hebeln, Kabeln, Leuchten, Bildschirmen und Mikrofonen ausgestattete kompakte Rauminstallation stellt solch ein geschädigtes Gehirn bildhaft in den Mittelpunkt des Bühnengeschehens. Es ist sehr eng in diesem Käfig, und meistens befindet sich nur eine Person darin, um in rasendem Tempo irgendwelche Schaltkreise zu legen, die dann vom nächsten Akteur wieder ebenso rasant umgepolt werden. Grelle Lichter blitzen auf, kurze Black-outs verunsichern, die Soundscape besteht aus Störgeräuschen und elektronischen Noise-Fragmenten – das von der Decke baumelnde, in Schwingung versetzte Mikrofon gibt oft den Takt vor. Gregory Frateur, der auch als Leadsänger der experimentellen Jazz-Gospel-Drama-Band Dez Mona bekannt ist, singt als eine Art Mantra „Prepare yourself ... to handle it“. Marion Bosetti und Louis Combeaud geben ebenfalls düstere Botschaften durch, wenn sie nicht gerade in zackigen Schritten außerhalb des Käfigs ihre Runden drehen oder sich Richtung Publikum und zurück bewegen.
Die Szenerie wirkt immer hyperaktiver, emotionsgeladener, verzweifelter, verstörender. Die auf den am Käfig angebrachten Monitoren groß eingeblendeten Gesichter der Akteure potenzieren die Intensität des Geschehens. Die Kontrolle geht verloren, die Kontakte erlöschen, Verlustangst, Frustration, Schmerz und Wut machen Resignation und Trauer Platz. Ein exakt geplantes, ritualisiertes und choreografiertes Chaos im Kopf. Die meterlangen Kabel, die auf allen Seiten rund um den Käfig anschlussbereit verlegt waren, werden eingezogen. Alle Verbindungen zur Außenwelt sind gekappt, es gibt kein Entrinnen, die inneren Kämpfe, die ausgefochten wurden, waren von vornherein nicht zu gewinnen. – „Seven years at last from now on you are someone else“. Und dann das oben erwähnte finale Black-out.

Triptychon zum Thema Demenz

Ann Van den Broek zählte bis ins Jahr 2000 zu den renommiertesten Tänzerinnen Belgiens und ist seither als Choreografin ebenso erfolgreich. In ihren vielfach preisgekrönten Produktionen untersucht sie auf nahezu mikroskopische Weise menschliche Verhaltensmuster, Bewusstseinszustände und Emotionen. Vom Thema Demenz ist sie aber auch direkt betroffen: „Meine Mutter erhielt die Diagnose Demenz und ging durch alle unterschiedlichen Phasen dieser Erkrankung. Ich habe die körperlichen Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz analysiert und auch die emotionalen und körperlichen Verhaltensweisen der Pfleger:innen. Ich interviewte Spezialisten zu diesem Thema und ließ mich von meinen eigenen Beobachtungen inspirieren. Nach der Analyse isolierte ich bis ins Einzelne hineingehend die Bewegungen und entwickelte Variationen dazu. Auf diese Art schuf ich eine Datenbank von grundlegenden Phrasen, die ich später zu einer Struktur zusammenfügte.“
Nun ist „Zooming in on Loss“ ja der Mittelteil eines Triptychons zum Thema Demenz, das leider unglaublich aktuell ist. In Österreich etwa sind derzeit rund 147.000 Menschen unheilbar am „Nachlassen der Verstandeskraft“ erkrankt, diese Zahl wird sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bis 2050 verdoppeln. Im an die Aufführung anschließenden Künstlergespräch appellierte Van den Broek dann auch an die Gesellschaft und an die in der Politik Verantwortlichen, dieser Erkrankung endlich mehr Augenmerk zu schenken und ihre wissenschaftliche Erforschung adäquat zu fördern. „Blueprint“, der erste Teil der „Memory Loss Collection“ hat eine Art lineare Chronologie aller Phasen der Demenz und deren wissenschaftliche Erforschung zur Grundlage. Der dritte Teil „Memory Loss“ enthält wiederum alle Elemente, aber nicht mehr in linearer Reihenfolge. Wie spannend müsste es wohl sein, alle drei Stücke hintereinander zu sehen. Das wäre doch glatt eine Reise nach Belgien wert!

tanz ist surprises
2. – 5.11.2022
Spielboden Dornbirn

Mi, 2.11. / Do, 3.11.22, 20.30 Uhr
Ann Van den Broek – Ward/waRD: „Zooming in on Loss“

Fr, 4.11.2022
18 Uhr – Soiree: ARTS for HEALTH AUSTRIA: „Kunst trifft Gesundheit“
19.30 Uhr – Film: Ann Van den Broek „Memory Loss Inside“ (2020)

Sa, 5.11.2022, 19.30 Uhr
Film: „The Father" (Regie: Florian Zeller, 2020, mit Anthony Hopkins und Olivia Coleman), anschl. Gespräch mit Dr. Albert Lingg

2. – 5.11.2022
Ausstellung: „Alles geht so schnell“ - Menschen mit Demenz fotografieren ihren Alltag
Eine Foto-Ausstellung der Aktion Demenz

www.tanzist.at
www.spielboden.at
www.aktion-demenz.at

Teilen: Facebook · E-Mail