Psychische Erkrankungen in Tanzform – James Wiltons verstörende Produktion „The Storm“ als Finale des tanz ist Festivals Peter Füssl · Jun 2019 · Tanz

Wenn einer wie der englische Choreograph und Tänzer James Wilton – der etwa mit seiner grandiosen „Moby Dick“-Adaption „Leviathan“ am Spielboden für Begeisterungsstürme sorgte – sich des Themas „Psychische Erkrankung“ annimmt, dann wird das, salopp gesagt, ganz sicher kein Kindergeburtstag. So waren bei „The Storm“ nicht nur die zwei Tänzerinnen und fünf Tänzer bis zum Letzten gefordert, sondern auch das Publikum. Ein unglaublich intensives, mitunter auch verstörendes Erlebnis, das viele begeistert und manche etwas ratlos hinterließ.

Wenn Idylle unversehens ins (Gefühls-)Chaos kippt

„Du kannst den Wind nicht sehen, aber du kannst sehen, wie er Objekte verändert. Du kannst Unglückseligkeit nicht sehen, aber du kannst erkennen, wie sie Menschen verändert. Ein Tief wird zur Depression, eine Depression wird zum Sturm. Wenn Du unglücklich bist, sagen die Leute: ‚Es wird sich alles in Wohlgefallen auflösen.‘ Es gibt eine Ruhe vor dem Sturm, aber gibt es auch eine danach?“ – Mit diesen Zeilen charakterisiert James Wilton die rund 70-minütige, durch eine Pause unterbrochene Produktion „The Storm“ auf seiner Homepage. Entsprechend idyllisch wirkt auch der Anfang. Die sieben Tänzer liegen sternförmig im Kreis, ihre Arme bewegen sich sanft wogend hin und her wie Wasserpflanzen in einer angenehmen Strömung. Sie setzen sich hin und unterhalten sich zwanglos, plaudern miteinander. Nichts deutet auf das Unheil hin, das ohne jegliche Ankündigung, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, auf sie niederfährt. Nach dem unvermittelten Einbruch dieses Sturms, wird nichts mehr so sein, wie es war. Fortan wird das karge Setting in Düsternis getaucht – Wilton zeichnet auch für das Lichtdesign verantwortlich.

Getanzte Seelenqualen

Drei Protagonisten schälen sich aus dieser Truppe heraus, die fortan die Szenerie dominieren. Die fabelhafte Sarah Jane Taylor – Wiltons Langzeitgefährtin und heißes Eisen für schwierigste Aufgaben – erstickt fast im stummen Leid, blickt fassungslos auf ihre rechte Hand, die unwillkürlich und unstillbar zittert. Nicht weniger ausdrucksstark agiert Norikazu Aoki, der von einer Art Zwangsstörung getrieben am Boden liegend sich in Richtung eines nie zu erreichenden, schwer zu deutenden Lichtflecks (= Lichtblick oder „Höllenfeuer“?) vorankämpft. In emotional aufwühlenden, zwischen enormen Kraftakten und gnadenlosen Niederbrüchen changierenden Tanzszenen versuchen die Gepeinigten, ihren Seelenqualen zu entkommen. Unterstützt werden sie dabei von der dritten Hauptperson, dem von James Wilton interpretierten treuen Freund und Helfer, der den Leidenden bis zur völligen Erschöpfung unterstützend zur Seite steht – was sich in kraftvoll intensiven Duetten manifestiert. Aber während er der verzweifelten Frau liebevoll besorgt begegnet, kümmert er sich um den beeinträchtigten Mann mitunter ratlos distanziert, manchmal auch versteckt aggressiv. So wirkt etwa enorm beklemmend, wenn er über dem auf dem Boden liegenden Kranken hüpft als würde es sich um eine Art menschliches Spielfeld für ein Himmel und Hölle-Spiel handeln – ungemein kraftvoll in die Höhe springend und mit den Füssen immer ganz knapp neben dem Körper des Liegenden landend.

Océane Sasizza, Beno Novak, Jacob Lang und Sean Monroe fungieren im Stück wie ein Chor, wirbeln im Sturm zwischen und hinter den Protagonisten in wilden Drehungen, Sprüngen und Verrenkungen über die Bühne als ob sie die Dämonen wären, die in den Köpfen und Seelen der psychisch Erkrankten wüten. Aber James Wilton ist das Thema auch von der fachlichen Seite her angegangen und hat sich von Dr. David Belin, Dozent am Department of Psychology an der Universität Cambridge, wissenschaftlich beraten lassen.

... kein bloßes Vergnügen

Wenn auch die tänzerischen Leistungen aller Beteiligten buchstäblich atemberaubend sind und James Wiltons längst zum Markenzeichen gewordener, kraftvoller Mix aus zeitgenössischen Tanzformen, Martial Arts, Akrobatik und Break-Dance mit seinem originellen Bewegungsvokabular wieder bestens funktioniert, so ist „The Storm“ dennoch weit entfernt von bloßem Vergnügen. Das ist zum Teil dem Thema geschuldet, denn es scheint zum Beispiel, als wolle Wilton die für psychische Erkrankungen typischen langwierigen Entwicklungen und unerwarteten Rückfälle in Form von vielen loopartigen Wiederholungen abbilden. Manchmal scheint sich das Geschehen kaum von der Stelle zu kommen. Alles passiert im Halbdunkeln, was eine verstärkte Konzentrationsfähigkeit erfordert, und der von Michał Wojtas, dem Kopf der polnischen Prog-Rock-Band Amorak, eigens für dieses Stück komponierte, emotionsgeladene Soundtrack passt faszinierend zum visuell Gebotenen, geht aber keineswegs immer schmerzfrei in die Ohren und unter die Haut. Manche Stücke klingen wie Reminiszenzen an die melodiös eingängigen, psychedelischen Gitarrenstücke von Pink Floyd, aber die Polen können auch höchst aufwühlend bedeutend heftiger zur Sache gehen.

Mehrdeutiger Schluss

Am Ende legt sich der Sturm, Unmengen von Papierschnipseln regnen auf die psychisch Erkrankten herab, was eine reinigende Wirkung zu haben scheint. Sarah Jane Taylor versteckt ihre zitternde Hand nicht mehr hinter dem Rücken, sondern streckt sie vor sich aus, und am Ende fassen sich die drei Hauptakteure an den Händen – was ihnen davor im Sturm sechzig Minuten lang trotz vieler Versuche nicht gelungen ist. Die Bühne erstrahlt nun in freundlicher Helligkeit, und so, wie zuvor urplötzlich alles im Chaos versunken ist, scheint sich nun alles in Wohlgefallen aufzulösen. Heilung oder doch nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm – das ist hier die Frage! Das Publikum applaudierte jedenfalls begeistert, in persönlichen Gesprächen erfuhr man aber, dass doch einige an ihre Grenzen stießen.

Im Herbst geht es weiter:
tanz ist surprises
6. - 9.11.2019
Spielboden Dornbirn
www.tanzist.at

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