Höchst erfreuliche Sprachverwirrung – Chris Harings Liquid Loft sorgten für fantastischen Auftakt zum tanz ist-Festival Peter Füssl · Jun 2019 · Tanz

Als man sich im antiken Babel anschickte, einen Turm bis in den Himmel hinauf zu bauen, um Gott gleich zu sein, bestrafte dieser die Hybris der Menschen dadurch, dass jeder der Bauleute eine eigene Sprache zu sprechen begann und keiner mehr den anderen verstand. Seit der im 1. Buch Mose geschilderten „Babylonischen Sprachverwirrung“ wird die Vielfalt an Sprachen und die damit verbundene Kommunikationserschwernis als Gottesstrafe für die lästerlich hochmütige Menschheit verstanden. Der aus dem Burgenland stammende Choreograf Chris Haring und Liquid Loft, Österreichs international erfolgreichste und mit Auszeichnungen überhäufte Tanzkompagnie, lassen sich von dieser angsteinflößenden Geschichte des gottesfürchtigen Propheten nicht groß beeindrucken und präsentieren mit „Foreign Tongues – Babylon (Slang)“ die Sprachenvielfalt als Quell erstklassiger Tanz- und Performancekunst, witziger Einfälle und grandioser Unterhaltung. Ein fantastischer Auftakt zum 25-Jahr-Jubiläum des von Günter Marinelli kuratierten tanz ist-Festivals am Dornbirner Spielboden, der – um es gleich vorwegzunehmen – am Ende mit frenetischem Applaus bedacht wurde.

Regionalsprachen, Dialekte und Slangs ...

Auf der Wunschliste von Chris Haring standen nicht die formellen Hochsprachen, sondern sogenannte, von der Mehrheit als solche deklarierte „Minderheitensprachen“ wie Katalanisch, Sorbisch, Gälisch, Okzitanisch oder Slowenisch-Kärntnerisch. Rund 40 solcher Sprachen sind auf Band dokumentiert, jeweils von drei Frauen und drei Männern unterschiedlicher Altersgruppen gesprochen, die von denselben Fragen und Vorgaben inspiriert zu zehn verschiedenen Themen ihre Geschichten erzählen. Wie sprichst Du mit einem Baby? Wie verführst Du Deinen Mann? Wie ärgerst Du Dich über das Sauwetter? Wie erklärst Du Deiner Frau, dass Du sie liebst?
Dieser Sprachenpool lässt sich natürlich jederzeit den jeweiligen Aufführungsorten gemäß erweitern, und so war es wenig erstaunlich, dass in der „Dornbirner Fassung“ dieses international erfolgreichen Projekts neben für unsere Ohren exotisch Klingendem auch der Dornbirner, der Lustenauer und der Bregenzerwälder Dialekt auftauchten. Diese Sprachkonserven werden natürlich nicht als plumpes Tondokument verwendet, sondern vom genialen Komponisten und Sounddesigner Andreas Berger zerstückelt und verhackt, gesampelt und geloopt, verfremdet und ja, passagenweise auch mal vollverständlich ausgespielt, sodass es nicht nur für Freunde ausgefuchster Elektronikklänge ein wahres Vergnügen ist. Chris Haring nennt das eine „Spoken Word Symphony“.

... als Ausgangspunkte für eine ausgefallene Bewegungssprache

Luke Baio, Don Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Novak, Arttu Palmio und Hannah Timbrell entwickelten unter der Anleitung von Chris Haring zu diesem mit zahlreichen Umweltgeräuschen angereicherten grandiosen Soundtrack ein Bewegungsvokabular, dass einen auch an sich Unverständliches intuitiv verstehen lässt. Die Tänzerinnen und Tänzer wussten zwar anhand der Fragen um welche Inhalte es ging, interessierten sich aber weniger für die Bedeutungsebene oder die inhaltliche Seite des Gesprochenen als für Melodien, Rhythmen, Lautstärken oder Geschwindigkeiten. Sie eigneten sich die Sprachen also von der phonetischen Seite her an und trainierten eine punktuell perfekte Lippensynchronisation, die gerade auch angesichts der elektronischen Verfremdungseffekte verblüffend exakt und mit scheinbarer Leichtigkeit realisiert werden konnte. Sie reden also buchstäblich auch mit Händen und Füßen, gestikulieren und grimassieren, führen Selbstgespräche, treten in Kommunikation oder entziehen sich dieser, verstehen und missverstehen sich.

Einbeziehen des gesamten Geländes und Umdrehen der gewohnten Verhältnisse

Chris Harings Entschluss, in der „Dornbirner Fassung“ sowohl das Innen- als auch das Außengelände einzubeziehen, ist voll aufgegangen. Den Anfang nahm die rund einstündige Performance im dem Spielboden vorgelagerten Innenhof, der von den Tänzerinnen und Tänzern unter Einbeziehung der gegenüberliegenden Hausfassaden, Kellerstiegenabgänge etc. großflächig zwischen den Zuschauern verstreut bespielt wurde. Das machte es manchmal schwer, den Blick von einem der Akteure wieder loszureißen und sich den anderen zuzuwenden oder zu versuchen, einen Gesamteindruck zu bekommen. Die Möglichkeit, sich Ausschnitte selektiv aussuchen zu können und sozusagen zum Regisseur seines ganz persönlichen eigenen Films zu werden, war also mit der Qual verbunden, auf anderes, nicht weniger Spektakuläres verzichten zu müssen.
Die Akteure bewegten sich anfangs mit robotergleicher Präzision zu unterschiedlichen Geräuschkulissen, etwa dem Quietschen einer ungeölten Tür, einem eigentümlichen Schaben oder dem Rascheln, das entsteht, wenn man Luftpolsterfolien aneinander reibt. In diesen Klangteppich wurden immer mehr Laute, Wortfetzen und schließlich Sprachsequenzen eingewoben und das Geschehen verlagerte sich immer mehr ins Gebäude hinein. Allerdings wurden erst einmal die gewohnten räumlichen Verhältnisse umgedreht, indem die Performer auf der Zuschauertribüne agierten und das Publikum von der Tanzfläche aus zuschaute. Dies bot der vielleicht poetischsten Passage des Abends Raum, als sich die Tänzerinnen und Tänzer ihre Kleidungsstücke über Köpfe und Gliedmaßen zogen, sodass sie wie Insektenpuppen in ihren Kokons wirkten, wie Aliens oder wie Fabelwesen – auch hier blieben den Zuschauern alle Interpretationsmöglichkeiten offen.
Sukzessive erobern die Akteure den Tanzboden und die Zuschauer zogen hinauf auf die Tribüne, womit die gewohnten Verhältnisse wieder erreicht wären und die Tanzperformance als Ausdruck von real unverständlicher, aber gefühlsmäßig keineswegs beunruhigender, sondern vielmehr faszinierender Vielsprachigkeit und Vielstimmigkeit nochmals temperamentvolle Fahrt aufnahm. Ob die Kommunikation in diesem Reigen aus gewohnten Gesten, absurden Verrenkungen, spritzigen Läufen, kunstvollen Drehungen und witzig grimassierten Wortfetzen schließlich funktioniert oder nicht, ob sich über die Körpersprache ausdrücken lässt, was über die verbale Sprache nicht mehr möglich ist, muss der Zuschauer für sich selber entscheiden.
Polyphonie oder Sprachverwirrung? Für mich steht es im Match Chris Haring gegen Moses jedenfalls 1:0! Und der selbst für die ungemein beliebten tanz ist-„Stammgäste“ Liquid Loft außergewöhnliche Begeisterungssturm am Schluss legt nahe, dass ich mit dieser Meinung nicht allein war.   

Wer diese grandiose Aufführung versäumt hat, bekommt noch eine zweite Chance:
Liquid Loft/Chris Haring: "Foreign Tongues - Babylon (Slang)"
Samstag, 8. Juni 2019, 20.30 Uhr
Spielboden Dornbirn
www.spielboden.at
www.tanzist.at

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