Getanzte Frauenpower – begeisternder Auftaktabend des tanz ist Festivals am Spielboden mit Aiko Kazuko Kurosaki und Mannès/Turine/Lemaître Peter Füssl · Jun 2022 · Tanz

Die Freude, dass endlich wieder einmal ein von jeglichen Corona-Beschränkungen unbeschwerter Besuch einer Kulturveranstaltung möglich ist, war den zahlreichen Tanz-Fans, die zum Auftakt des tanz ist Festivals am Dornbirner Spielboden strömten, sichtlich anzumerken. Die freudige Grundstimmung, endlich wieder einmal mit Freunden und Bekannten etwas Exzeptionelles erleben zu dürfen, war gepaart mit einer großen Offenheit gegenüber den künstlerischen Darbietungen, die es an diesem Abend wahrlich in sich hatten. Denn die seit Jahrzehnten in Wien lebende Japanerin Aiko Kazuko Kurosaki und die belgische Compagnie Mannès/Turine/Lemaître boten zwar keine leichte Kost, aber durchaus Originelles, Bewegendes und Faszinierendes, was vom Publikum mit langanhaltendem Beifall quittiert wurde.

Aiko Kazuko Kurosaki: „RED Silence“ – work in progress zur Gewalt gegen Frauen

„A new wave of feminism“ lautet der Untertitel des diesjährigen tanz ist Festivals, das sich der Thematik freilich nicht mit ideologischer Keule, sondern künstlerisch nähert und die tänzerischen Darbietungen für sich sprechen lässt. Aiko Kazuko Kurosaki präsentierte dazu ihr Langzeitprojekt „RED Silence“, mit dem sie bereits eine Woche vor dem Festival-Start in der Dornbirner Innenstadt präsent war und nun am Eröffnungsabend das Festivalpublikum auf dem Weg zum Eingang des Spielbodens begrüßte. Oder besser: verunsicherte. Denn die künstlerische Leiterin der Initiative One Billion Rising Austria, die sich gegen Gewalt an Frauen richtet, rüttelt mit ihrer minimalistischen Darbietung auf. Metallisches Klimpern tröpfelt aus dem Lautsprecher und in größeren Abständen ist eine Frauenstimme mit einem erschütternden Lebensbericht zu hören: „Er hat mir alles versprochen. (...) Er hat mir alles genommen: das Geld, meine Papiere, vor allem aber meine Selbstachtung und meine Ehre.“ Dazu dreht und wendet sich die ganz in Weiß gekleidete Kurosaki in langsamen Bewegungen, ein großes rotes Seilknäuel in ihren Händen, legt es sich auf den Kopf und droht darin zu verschwinden, manchmal schwingt sie es auch rasch und energisch. Manchmal findet sie den Anfang (oder das Ende) der roten Schnur, aber alles verheddert sich gleich wieder und geht dann in Slow-Motion wieder von vorne los. Ein treffendes Sinnbild für den ebenfalls unglaublich langsam voranschreitenden gesellschaftlichen Prozess in Sachen Gleichwertigkeit, Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frauen. Und ein vieldeutiges: Haben wir es mit dem Faden der Ariadne zu tun, der uns aus dem Labyrinth führt, oder mit einem gordischen Knoten, den es zu lösen oder zu durchschlagen gilt? Rot wie die Liebe und die Leidenschaft? Rot wie Blut und rasende Wut? Lebensfaden? Schicksalsfaden? Kommunikationshilfe? Rote Linie? Eindeutig ist hingegen das Dutzend roter Damenschuhe, die nicht nur als Teil des Bühnenbilds fungieren, sondern für die auch in Österreich zahlreich zu beklagenden Femizide stehen, wie die Tänzerin erklärt. Sie will „RED Silence“ als Aufruf gegen strukturelle, physische, psychische, häusliche und im Cyberraum stattfindende Gewalt gegen Frauen verstanden wissen, als ein Sichtbarmachen dieser gerne verdrängten Problematik, weshalb sie sich auch seit Jahren stark frequentierte Plätze im öffentlichen Raum für ihre künstlerische Intervention aussucht. Dort ist sie allerdings normalerweise mit einem Laufpublikum frequentiert, das sich die Performance kurz anschaut, um dann – von Helferinnen über die Intentionen der Aktion aufgeklärt – wieder weiterzuziehen. Vor dem Spielboden blieb das Publikum allerdings wie angewurzelt stehen, was die sympathische Tänzerin veranlasste, nach einer Weile aus der Rolle zu treten und mit den Leuten in ein erklärendes Gespräch einzutreten.

Mannès/Turine/Lemaître: „FORCES“ – optimistisch stimmende Frauenpower

Tanz ist-Mastermind Günter Marinelli bezeichnet Belgien als „Hotspot für neue tänzerische Entwicklungen“ – eine Meinung, der man sich gerne anschließt, nachdem man von der formidablen Produktion „FORCES“ eine knappe Stunde lang völlig in den Bann gezogen worden ist. Das vor sechs Jahren gegründete Ensemble wird von der Tänzerin/Choreographin Leslie Mannès, dem Komponisten/Musiker/Sounddesigner Thomas Turine und dem Lichtdesigner Vincent Lemaître gleichberechtigt geleitet, die Stücke sind das Ergebnis monatelanger Improvisationen, in denen man sich wechselseitig beeinflusst und vorantreibt. Mit für alle Beteiligten überraschenden Ergebnissen und großem Erfolg, wie begeisterten Publikumsreaktionen am Stückende eindrucksvoll unter Beweis stellten.
„Forces“ ist aber auch wirklich ein echtes Kraftstück, das in unserem Zeitalter grassierender Deprimiertheit, zunehmender Lustlosigkeit und wachsender Ängstlichkeit gerade recht kommt, denn die drei Tänzerinnen Leslie Mannès, Mercedes Dassy und Thi-Mai Nguyen (eingesprungen für die schwangerschaftsbedingt verhinderte Originalbesetzung Daniel Barkan) reißen mit ihrer selbstbewussten Frauenpower jedermann und -frau mit.
Dabei ist der Anfang von „Forces“, das auf jegliches Narrativ verzichtet, dafür aber auf der emotionalen Ebene förmlich explodiert, ein durchaus düsterer. Aus völliger Finsternis tauchen unendlich langsam drei weißgewandete Figuren mit monotonen Bewegungen zu ebensolchen trockenen Electro-Beats auf. Die Figuren gewinnen zunehmend an Präsenz, nähern und entfernen sich voneinander in rituellen Bewegungsabläufen, die zu minimalistischen Electronic-Noise-Tönen nur langsam variieren, wenn eine Tänzerin ein neues Muster vorgibt, das die anderen dann übernehmen. Der vom im Theater, Tanz- und Film-Business vielbeschäftigte Thomas Turine vor Ort live gemixte Sound wird lauter und intensiver, das Auftreten selbstbewusster, es kommt zunehmend Bewegung ins Geschehen. Die Performerinnen suchen in Dreiecksformation Nähe und gehen wieder auf Distanz, fixieren das Publikum mit direktem Blick und marschieren bis knapp vor die erste Reihe energisch darauf zu. Die weißen Gewänder fallen, die Tänzerinnen präsentieren sich in knappen Gewändern, die an archaische Kämpferinnen ebenso erinnern wie an futuristische Wonder-Woman-Heldinnen. Manche Posen wirken martialisch, andere erotisch und sexuell aufgeladen, die Bewegungen kippen vom betont Gleichförmigen ins Ungleichförmige, die langen Haare der Akteurinnen werden effektvoll in die Choreographie miteinbezogen und potenzieren die ekstatischen Momente. Die harten Rhythmen werden mit barocken Klaviertönen aufgeweicht, das Melodiöse bringt freudige Beschwingtheit und fast schon übermütige Lockerheit ins Geschehen, die Rituale entwickeln befreiende, nahezu hypnotisch wirkende Energien – ein kraftvolles, optimistisch stimmendes Finale als wundervoller Kontrast zu den düsteren Anfängen.
Das Publikum wohnt hautnah einer ausdrucksstarken tänzerischen Metamorphose bei, die im Konzept zu „Forces“ mit den Worten der amerikanischen Wicca-Schriftstellerin Starhawk treffend charakterisiert wird:
„The inner power is the power coming from under, from the dark, from the earth. The power that comes from our blood, our lives and our passionate desire for the living. It is the power to feel, to heal, to love, to create, to give shape to our future, to change our socials structures.“
Nicht zuletzt die räumliche Nähe zwischen Publikum und Performerinnen am Spielboden ließ diese österreichische Erstaufführung von „Forces“ zum eindrucksvollen Ereignis werden. Diese Unmittelbarkeit setzt sich in der Möglichkeit fort, im Anschluss an die Aufführung mit den Künstler:innen direkt in Kontakt zu treten und Fragen zu stellen. Eine unkomplizierte Direktheit, die neben den außergewöhnlichen Gästen und neue Horizonte eröffnenden Produktionen den ganz besonderen Charme des tanz ist Festivals ausmacht.

„Forces“ von Mannès/Turine/Lemaître ist nochmals am Samstag, 11.6., 20.30 Uhr zu sehen.
Am Dienstag, 14.6., 20.30 Uhr präsentiert Mercedes Dassy, eine der drei exzellenten Tänzerinnen, ihre Solo-Produktion „I-Clit“.
Und das große Finale des tanz ist Festivals wird am 17./18.6. mit der kanadischen Tanz-Ikone Louise Lecavalier und der Produktion Stations über die Bühne gehen.
www.spielboden.at
www.tanzist.at

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