Ein Stück, das duftet - Silvia Salzmann und Sarah Mistura begeistern mit „Souvenir“ in der Remise Bludenz Mirjam Steinbock · Nov 2021 · Tanz

Man nehme ein Thema, das alle betrifft, ein Ensemble mit inspirierenden Künstler*innen, kraftvolle Choreographien, sensibel gefilmte Außenaufnahmen, ein ausgeklügeltes Bühnenbild, Live-Musik verquickt mit Soundcollagen, ein dramatisches Lichtkonzept, persönliche Geschichten arrangiert in Text, Tanz und Musik und „Bing!“, fertig ist das Gesamtkunstwerk. Was nach einer Backmischung klingt, hat sich anlässlich der Uraufführung von „Souvenir“, der neuen multimedialen Produktion von Silvia Salzmann und Sarah Mistura, tatsächlich so ereignet – inklusive jenes süßen Dufts, den man von einem Gugelhupf erwarten darf.

Das Backwerk ist der Dreh- und Angelpunkt in „Souvenir“. Als Teil des Titelbilds und physisch präsent an den Filmorten in Bludenz, Hard und Dornbirn ist es am Premierenabend auch im Remise-Foyer anzutreffen; in Form weißer Artefakte mit QR-Code, die auf die Website von Silvia Salzmann umleiten, hin zu Fragen an die ganz persönlichen Erinnerungen der Leser*innenschaft. Deren Antworten könnten – anonymisiert - dann selbst zu einem Teil der interaktiven Bühnenperformance werden. Das Souvenir und damit jenes Erinnerungsstück, das man auf Reisen oder durch andere Erlebnisse verankert mitnimmt, taucht oft viel später als zarter oder auch eindringlicher Appell eines geografischen oder emotionalen Wieder-Erlebens in unserem Bewusstsein auf. Diesen Vorgang nutzen die Künstler*innen dieser Produktion bewusst. Sie bieten dem Publikum medial, musikalisch und darstellend an, in die große Welt willkommener und unangenehmer Erinnerungen einzutauchen. Dem Ensemble um Tänzerin und Choreografin Silvia Salzmann und Filmerin Sarah Mistura gelingt es hervorragend, dies in der Bandbreite der Künste und in enger Verbindung mit dem Ort zu tun. Das Publikum wird in rund sechzig Minuten Spielzeit sinnlich getriggert, was das Zeug hält.

Körperliche Führungsrolle und starke Bühnenpräsenz
Es duftet süß im Bühnenraum, der mit etlichen weißen und Eisschollen-artigen Elementen ausgestattet ist und dessen kaltes Licht eindeutig im Widerspruch zum wohlig-warmen Geruch einer Süßspeise steht. Die Gegensätze von Farben und Emotionen, von Wasser und Erde, von Freude und Verzweiflung, von Übermut und Resignation in Verbindung mit der unterschiedlichen Wahrnehmung von Erinnerungen begegnen dem Publikum dieses Abends immer wieder. Die beiden Künstlerinnen Silvia Salzmann und Cornelia Baumgartner verkörpern die Vielfalt des Erlebten live und verknüpfen dies mit medialen Elementen. Salzmann zeigt sich in einer Art körperlicher Führungsrolle, sie ist so hin- wie mitreißend in ihrer Performance, in der sie scheinbar mühelos über und auf die Bühnenelemente zu fliegen scheint. Sie wechselt unmittelbar von harten Rhythmen zu beinahe zärtlichen Gesten, gibt sich mimisch unnahbar, um plötzlich mit einem einnehmenden Lächeln die komplette Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihre Bewegungen dehnen sich über Sprünge, Drehungen und Posen auf allen Ebenen aus. Für einen besonderen Erinnerungsmoment sorgt sie, als sie ihre Vorderseite zur Hinterseite macht, indem sie den Zopf vornüber und die Jacke umgekehrt trägt. Ihre grotesken, starren Bewegungen stehen im Kontrast zur eingesprochenen Meditationsanleitung, die zu Entspannung und Loslassen auffordert. Hier wird, ähnlich der berühmten Performance „Self-Unfinished“ des französischen Tänzers Xavier Le Roy mit Seh- und Hörgewohnheiten gespielt, was die Sinne nochmals schärft. Die Musikerin Cornelia Baumgartner zeigt ebenfalls hohe Bühnenpräsenz, selbst in musikalischen Pausen. Sie beherrscht die Klaviatur ihres Instruments, reichert den elektronischen Soundteppich akustisch an, gibt mit jazziger Stimme einer komplett neuen Klangfarbe Raum und synchronisiert eine Filmsequenz des am See sitzenden und einen Gugelhupf essenden Schauspielers Johannes Schüchner so exakt, dass der Blick von der Leinwand stets zur Klangperformerin schweifen möchte. Dass man die Berührung von Haut mit dem Streicheln eines Spülschwamms vertonen kann, ist eine interessante Entdeckung.

Was im Herzen rührt
Die Augenhöhe zwischen den Künsten herstellen zu wollen, ist Wesen und Ausgangspunkt von Silvia Salzmanns Arbeit. Das gelingt und scheint mit jeder Produktion noch selbstverständlicher zu werden. Dass Projektionen mit so außergewöhnlichen Filmsequenzen nicht den gesamten Fokus einnehmen, verlangt entsprechende Fähigkeiten des Teams und viel Erfahrung. Das Bühnenbild-Konzept des Bildhauers Roland Adlassnigg mit großen wie kleinen Elementen, die sich bewegen, bespringen, betanzen, zusammenstellen und in Farbe und Bild belichten lassen, ist dementsprechend überzeugend und darüber hinaus unterhaltsam. Der spielerische Umgang mit dem Material, das sich je nach Szene in Stein, Baum, Eisscholle oder eben Leinwand verwandelt, lässt die Bühne abwechselnd zu Herbstwald, Bodensee und auch Antarktis werden. Das Licht von Matthias Zuggal unterstreicht die Szenen nicht nur, sondern kündigt auch deren Dramaturgie an. Zuggals Konzept verführt dazu, den weiteren Verlauf der Szene erahnen zu wollen. Sarah Mistura spielt in ihren Videos mit einem Perspektivenwechsel in der Kameraführung. Die Close-ups der Filmerin und Fotografin, in denen sie die professionelle Tänzerin Marina Rützler, die beiden Nachwuchstänzerinnen Mia und Lina Feuerstein und den Schauspieler Johannes Schüchner in einer gleichzeitig intimen und würdevollen Nähe abbildet, zeigen das Potential Misturas, den Grat von Offenheit zu Entblößung nie zu überschreiten. Wie die Künstler*innen von „Souvenir“ mit dem Faktor Zeit umgehen, ist besonders beeindruckend. Beispielsweise die Szene im Wald mit Vogelgezwitscher und dem Tanz auf moosbedeckter Erde ist von betörender Langsamkeit und fast schon meditativ. So auch die Szene am Bodenseeufer bei glatter Wasseroberfläche und mit Möwengeschrei, fast schmeckt man den See. Sich diesem Rhythmus hinzugeben und der Erzählung der Darsteller*innen zu folgen, bewirkt, sich plötzlich im Zeitgefühl zu verlieren und offen zu sein für das, was sich vor den Augen präsentiert und sich im Herzen rührt. Die vielen komischen Momente in den Szenen tragen eine willkommene Prise Humor bei. Und wenn sich zum Schluss die Fragmente aus Schlagern und Popsongs, aus Dialekten und Sprachen, Geschichten von Haselnüssen in Handtaschen, zu vielen Postkarten und kalten Nudeln zu verschmelzen scheinen und Silvia Salzmann am Boden liegend aus einem Nebel aufsteigt, wird bewusst, woraus die Summe unseres Menschseins tatsächlich bestehen dürfte. „Souvenir“ als Tanzstück und auch Botschaft wird mit dieser Premiere jedenfalls erinnerungswürdig bleiben.

Weitere Aufführungen von „Souvenir“:
Fr, 12.11.2021, 20:00 Uhr, Kammgarn Hard
Mi, 24.11.2021, 20:00 Uhr, Spielboden Dornbirn

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