tanz ist Festival-Finale: Mélanie Demers spielt mit Klischees um weibliche Ikonen Peter Füssl · Jun 2023 · Tanz

Der Kanada-Schwerpunkt beim diesjährigen tanz ist Festival sollte mit einem Doppelabend mit zwei Produktionen der aufsehenerregenden Tänzerinnen/Performerinnen Mélanie Demers und Be Heintzman Hope ins Finale gehen. Leider musste Letztere krankheitsbedingt kurzfristig absagen, ihr intensives Solo-Stück „Switch (meditations on crying)“ konnte nur in einer Filmversion gezeigt werden. Der Auftritt der vielfach ausgezeichneten, international überaus gefragten und sich selbstbewusst über jegliche Genregrenzen hinwegsetzenden Mélanie Demers hatte es allerdings durchaus in sich, unterhielt und verstörte gleichermaßen.

Außergewöhnliches Setting

Tiefgaragen, stillgelegte Fabriksgebäude, quirlige Einkaufszentren – Mélanie Demers liebt es, „Icône Pop“ in außergewöhnlichen Settings aufzuführen. Zumal ihr die Verbindung von Poetischem und Politischem ein besonderes Anliegen ist. So ging auch schon die Uraufführung dieser Low-Budget- und Low-Tech-Produktion 2016 als Auftragsstück des italienischen Tanz-Theater-Musik-Festvials B.Motion in der für kulturelle Zwecke umfunktionierten Chiesa dell’Annunziata in Bassano del Grappa über die Bühne. Auch am Dornbirner Spielboden versuchte man, das gewohnte Setting etwas aus den Fugen geraten zu lassen und führte das Publikum durch den Bühneneingang ins Innere, wo ein eine Art imaginärer Laufsteg zwischen zwei langen Stuhlreihen zum Schauplatz des Geschehens wurde.   

Von Madonna bis Beyoncé

Empfangen wurde man zuerst einmal von der Sängerin Florence Blain Mbaye, in deren elektronisch verhalltem Gesang sich Antonín Dvořáks „Stabat Mater“ mit „Survivor“ von Destiny’s Child trafen. So wurde musikalisch gleich schon der Rahmen der mit performativen Mitteln zu untersuchenden Ikonen abgesteckt, denn die genannte Band war bekanntlich das R’n’B-Biotop, dem die von unzähligen Fans nahezu schon kultisch verehrte Beyoncé entsprang: Und wenn hier von Madonna die Rede ist, soll es ausnahmsweise einmal nicht um die blonde Göttin Louise Ciccone gehen, sondern um die originale Himmelsfahrerin. Demers interessiert sich für den Zusammenhang von Popkultur und Religion und versucht, „über die Heiligkeit und Profanität von Weiblichkeit, Mutterschaft, Spiritualität und andere Trivialitäten nachzudenken“. Dies tut sie mit Genuss und anarchischem Spaß und führt dabei gleich auch die gewohnten Erwartungshaltungen des Publikums ad absurdum.

Demers betritt im langen, wallenden, blauen Kleid, mit auffallender Sonnenbrille, dicken goldenen Ketten um den Hals und mit einem einen Heiligenschein andeutenden Kopfschmuck die Szene und wandelt zwischen den beiden Stuhlreihen auf und ab . Erinnert das „Stabat Mater“ noch an den unendlichen Schmerz der Gottesmutter bei der Kreuzigung ihres Sohnes, so schleudert sie ihre Aureole bald einmal auf den Boden und lockt wie eine suchende Mutter mit „Where is my baby?“. Wütend angesichts ihrer Erfolglosigkeit kippt sie mit den Worten „It’s enough, I need a drink. Come to mama!“ bald einmal aus der klischeehaften Rolle.

Vom Striptease anderer Art ...

Beim zuerst zaghaft, dann mit kehliger Stimme lautstark intonierten „I’m a survivor“ scheint sie sich zunehmend beengt zu fühlen, entledigt sich zuerst der meterlangen, vielfach um den Hals gewickelten Goldkette und schält sich dann aus dem blauen Kleid, das sich als biedere Plastikplane, wie man sie auf Baustellen verwendet, entpuppt. Was vielleicht noch als leicht verhunzter Striptease durchgehen würde, endet in einer Enttäuschung für potentielle Voyeure, denn Demers zieht keineswegs blank, sondern trägt darunter ein türkises Paillettenröckchen und hat sich einen Plastikbusen auf den Oberkörper geklebt. Von den unpassenden Schuhen und Socken ganz zu schweigen. So schnappt sie sich das Mikro, schaltet auf sie gerichtete Spotlights ein und beginnt ihren Showauftritt: laszive Tanzeinlagen und Gestik à la Beyoncé, der Gesang ist allerdings nur angedeutet und statt Pop erschallt mit elektronischen Drums unterlegte Klassik aus den Lautsprechern. Die Bewegungen eines Popstars im Zeitlupentempo zu total verhallten Klängen ergeben ein völlig surreales Bild, bis sie schließlich zusammenbricht und am Boden – bei totaler Stille – in unkontrollierbare Zuckungen verfällt.

... zur seltsamen Thronbesteigung

Auf die Wiederauferstehung folgt ein weiterer kleiner Strip – vom Paillettenröckchen befreit setzt sie sich auf einen sorgsam von ihr selbst illuminierten, leicht erhöhten Thron an der Stirnseite des Laufstegs, vis-à-vis der Musikerin. Zu einer Art Voodoo-Göttin mutiert hält sie eine Rede, der ehemalige Heiligenschein dient mittlerweile als Fächer, betatscht publikumswirksam die Problemzonen ihres Körpers, schlägt sich auf den Bauch, telefoniert mit ihrem Stöckelschuh als Telefonersatz und bricht immer wieder in hysterische Lachanfälle aus. Sie zieht den Slip aus und hat – wer hätte das gedacht? – drunter einen zweiten Slip an. Es gelingt ihr – unter Lachkrämpfen – ganz unsexy die Socken ausziehen und sich damit unter den Armen den Schweiß wegzuwischen. Wenn Lachen ansteckend wirkt, so war allerdings ein großer Teil des Publikums an diesem Abend lange Zeit ziemlich resistent. Erst nach einer angemessenen Inkubationszeit wurde mitgelacht – als die Künstlerin schon wieder vergeblich versuchte, ernst zu sein. Selbstinszenierung statt Orientierung? Weibliche Ikonen aller Art und die damit verbundenen Klischees hat Mélanie Demers, die bisher rund dreißig Stücke choreografiert hat und an den wichtigsten kanadischen Theaterschulen unterrichtet, jedenfalls nachhaltig hinterfragt.

Be Heintzman Hope: Video-Gruß aus Kanada

Die indigene kanadische Tänzerin Be Heintzman Hope hätte mit ihrer Choreographie „Switch (meditations on crying)“ eigentlich den zweiten Teil des Abends bestreiten sollen. Leider musste sie sich kurzfristig einer Operation unterziehen und somit den Flug über den großen Teich und ihre direkte Teilnahme am tanz ist Festival absagen. Stattdessen schickte sie einen Videogruß samt Erläuterungen zum Stück, das anschließend in einer wundervollen Verfilmung gezeigt wurde. „Mein Körper ist ein Ort, an dem Emotionen ausgegraben und freigelegt werden, das ist die Grundlage meiner Arbeit. Unausgesprochene Dinge leben in uns weiter, nehmen ihren Platz ein. Ich versuche, diese Dissonanzen zu entwirren“, so Heintzman Hope. Jedenfalls wurde klar, dass diese ausdrucksstarke Performance den so außergewöhnlichen Kanada-Schwerpunkt beim tanz ist Festival perfekt abgerundet hätte. Und alle waren sich einig, dass man den Auftritt der Künstlerin unbedingt nachholen sollte.  

Heute, Samstag 17.6., ist das Programm ab 20.30 Uhr nochmals am Spielboden Dornbirn zu sehen.
www.tanzist.at

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