TAK-Premiere: Messen ist eine hohe Kunst Anita Grüneis · Sep 2024 · Theater

Die erste TAK-Eigenproduktion der Spielsaison begann mit Worten von Immanuel Kant und passte somit zum diesjährigen Motto „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Gezeigt wurde „Die Vermessung der Welt“ nach dem Buch von Daniel Kehlmann aus dem Jahr 2005. TAK-Intendant Thomas Spieckermann hatte das Werk in eine neue Bühnenversion gebracht, die vom Schriftsteller autorisiert wurde. Somit handelte es sich um die Uraufführung der neuen Version.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Sapere aude!“ (zu deutsch: Wage es, weise zu sein), war groß auf der Bühnenrückwand zu lesen – der Leitspruch der Aufklärung. Damit war die Zeit des folgenden Spielgeschehens mit den beiden Protagonisten Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss festgelegt. Zwei Wissenschaftler, zwei Charaktere, zwei Weltgelehrte, die sich in ihrer Neugier nach Wissen einig sind. Während aber Carl Friedrich Gauss seine Berufung in der Welt der Zahlen findet, zieht es Alexander von Humboldt in die weite Ferne. Beide sind Vermesser. Der eine entwickelt Koordinatensysteme für die Genauigkeit, der andere möchte das Zusammenwirken aller Naturkräfte verstehen. 
Thomas Spieckermann hat das Buch von Daniel Kehlmann sehr gründlich gelesen und immer wieder den Humor des Autors herausgeschält, so zum Beispiel als Humboldt seinen französischen Assistenten Aimé Bonpland fragt, ob er denn nie Kant gelesen habe und dieser antwortet: „Ein Franzose liest keine Ausländer“. Ein andermal übersetzt Humboldt Goethes Gedicht „Wanderers Nachtlied“ ins Spanische: „Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig und bald werde man tot sein.“ Und Humboldt gesteht, dass ihn Bücher ohne Zahlen beunruhigen und er sich im Theater stets gelangweilt habe. 

Viel Bewegung auf der Bühne

Regisseur Oliver Vorwerk tut alles, damit dies beim TAK-Publikum nicht geschieht. Bühnenbildner Alexander Grüner baute einen leicht schrägen Laufsteg, der wie ein Halbkreis vor den Bühnenhintergrund mit der großen Leinwand liegt. Ganz im Sinne der Erkenntnis: Der (Welt-)Raum ist gebogen. Auf und neben ihm ist immer viel Bewegung, denn die fünf Schauspieler:innen spielen mehrere Rollen, sind allerdings immer gleich gekleidet. Die Bühne selbst ist sehr oft in (zu viel) Nebel gehüllt, was der Szenerie etwas Mystisches verleiht. Dazu sind auf der Leinwand je nach Situation Bilder von der stürmischen See, dem gespenstischen Treiben auf dem Schiff oder der gefährlichen Begegnung mit dem Jaguar zu sehen.  
Die eigentliche Stimmung aber geht von den Darsteller:innen aus, die ihre Figuren mit viel Leben füllen. Allen voran Dan Glazer als neugieriger Alexander von Humboldt, der auch vor Versuchen am eigenen Körper, um den Magnetismus zu verstehen, nicht zurückschreckt. Oliver Reinhard ist jeden Zoll der in seiner Zahlenwelt selige Carl Friedrich Gauss, der am liebsten in Gleichungen ertrinkt. An einer Frau interessieren ihn vorwiegend die Läuse in ihren Haaren, wobei Nicole Spiekermann ganz still hält. Sie kann aber auch anders, ob als Frau Gauss oder als Regentin – sie stemmt jede Figur mühelos, trotz ihres üppigen Rockes. Die Kostüme wurden übrigens von der Oper Zürich ausgeliehen. Thomas Beck ist der wunderbare Begleiter Bonpland, der seinem „Meister“ Humboldt überall hin folgt, aber nicht, ohne selbst mitzudenken. Der fünfte im Bunde ist Andy Konrad, ein Mann für alle Fälle, denn er übernimmt viele Rollen, ist in jeder ein anderer und springt auch mal wie ein Pferd über das Lauf-Halbrund. 

Die lange Nacht

Diese Vermessung der Welt im TAK glich streckenweise einer szenischen Lesung des Buches, vor allem im ersten Teil, in der sowohl die Jugend der beiden Gelehrten als auch deren Wissbegier deutlich gemacht wurde. Eine Pause war nach zwei Stunden dringend nötig, denn die Texte haben auch für die Schauspielenden einen enormen Umfang. Nach der Pause schien aber der Faden des Geschehens etwas zerfleddert. Zwar ging es zunächst noch zum Orinoko und den Erlebnissen Humboldts in Südamerika, dieser sang ein Hohelied auf die Welt der Pflanzen, doch dann verlor sich das Geschehen im Nebel, der die Bühne einhüllte. Das Treffen der beiden Wissenschaftler beim Kongress in Berlin wurde zur Nebensache, dafür erklangen plötzlich deutschtümelnde Töne mit dem Lied: „Die Welt gehört uns und die Nacht vergeht, der morgige Tag ist mein“ aus dem Musical „Cabaret“. Und Humboldt wurde von seinem französischen Assistenten gefragt, ob er immer so deutsch sein müsse? Das musste er, denn er trug auch die Weimarer Klassik in die Welt hinaus. Der eher weltfremde Wissenschaftler Carl Gauss fragte hingegen einmal erstaunt: „Es ist Krieg? Was hat das mit uns zu tun?“, und meint: „Die wahren Tyrannen sind die Naturgesetze“. Alexander Humboldt zeigt sich überzeugt: „Der Verstand formt die Gesetze.“ Noch einmal wird so auf die Weltsicht der Wissenschaftler hingewiesen. Verzichtet wurde auf die Forschungsreise nach Russland, zum Glück, denn die Aufführung war mit knapp drei Stunden eindeutig zu lang geraten – da wurde zu wenig an das Publikum gedacht, das die intellektuellen Gedankengänge der Wissenschaftler ja mitmachen muss. Das Buch wurde klug und durchdacht in eine Theaterfassung gebracht, aber alles im Buch lässt sich nun mal nicht vorführen. Das muss schon erlesen werden. 
Vor der Aufführung hielt Thomas Spieckermann eine kurze Rede zur Saisoneröffnung und erzählte, dass er drei Semester Physik studiert habe, Experimentalphysik. Dabei habe er auch gelernt, dass Fehlerrechnungen dazu gehören. Keine Meinung sei hundert Prozent richtig. „Wir Menschen sind soziale Wesen und brauchen Kompromisse“, meinte er, wie auch „Regeln im Umgang miteinander“. Seine „Vermessung der Welt“ machte dies deutlich.

nächste Vorstellungen: Do. 3. Okt., Do. 7. Nov., Fr. 22. Nov. jeweils 19.30 Uhr
sowie Gastspiel am Di. 22. Okt an der Bühne Aarau

www.tak.li

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