Statt Wohlstand Wohlergehen Ingrid Bertel · Okt 2025 · Gesellschaft

„Sehet in Zufriedenheit tausend helle Wohlfahrtstage“, heißt es in der Hochzeitskantate von Johann Sebastian Bach. Das war damals ein frommer Wunsch, und es ist einer geblieben. Denn obwohl wir weit mehr als tausend helle Wohlfahrtstage erlebt haben, kann von Zufriedenheit kaum die Rede sein. Was macht uns so grantig, so aggressiv, so pessimistisch? Die achten Land_Gespräche Hittisau am Samstag, den 18. Oktober widmeten sich der Frage „Wohlstand. Wie weiter?“

Wir stehen auf der obersten Sprosse der Wohlstandsleiter, betonte der Hittisauer Bürgermeister Gerhard Beer bei der Eröffnung der Land_Gespräche, aber ganz oben auf der Leiter werde es wacklig und man sehe, dass es nicht mehr weiter hinauf geht.
Der Verhaltensökonom Matthias Sutter vom Max Planck Institut konnte eines experimentell nachweisen: Je größer die Einkommensunterschiede in einem Land sind, desto mehr entsteht der Eindruck, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugeht, dass Korruption im Spiel ist. Das erzeuge ein Spannungsfeld, in dem es schwierig wird, politische Lösungen zu finden. Fairness, so Sutter, ist die Basis für Wohlstand. 
Clemens Götz, Langzeitbürgermeister einer kleinen Gemeinde in Deutschland, fügt hinzu, dass die Stärkung des Gemeinsinns eine entscheidende Rolle spiele. Eine Kleingemeinde sei ein Experimentierfeld. Sein Experiment bestand darin, zwischen 2007 und 2023 eine ganze Reihe von Maßnahmen zu treffen, die das Ziel hatten, den Gemeinsinn zu stärken - etwa gemeinsam mit den Einwohnern der stark von Zuzug geprägten Gemeinde einen Mehrgenerationenpark zu bauen, ein Ehrenamtlichenzentrum dazu oder auch Ortschaftsräte ins Leben zu rufen, kurz: Politik nicht für die Menschen, sondern mit den Menschen zu machen. Das habe sie zufriedener und resilienter gegen die Versprechungen der AfD gemacht.

Midlife-Krise

Wir stecken in der Midlife-Krise der Moderne, konstatierte der Publizist Ludwig Hasler, der mit seinem trockenen Humor und seiner brillanten Rhetorik den Saal zu Begeisterungsstürmen hinriss. Wunschloses Unglück ist, so Hasler, das Grundgefühl dieser Krise. Wir haben keine Träume, erwarten von der Zukunft nichts Besseres, befürchten nur noch Verschlechterung. Wie kommen wir aus dieser Sackgasse heraus? Indem wir zurückkehren zu den Ideen dessen, was der Fortschritt versprach. Wohlstand hieß doch Unabhängigkeit, Gestaltungsfreiheit, Horizonterweiterung. Green glamour käme jetzt noch dazu. Es gibt eine Pflicht zur Zuversicht, verlangt Hasler - und die mehr als 300 Menschen im Saal stimmen hörbar zu. 
Nur: Wie soll das gehen? Auftritt für Ferdinand Sutterlüty. Der in Frankfurt lehrende Soziologe hat etwas Ungewöhnliches gemacht, nämlich den Boden der Wissenschaft verlassen und nach Menschen gesucht, die widerständig leben. Acht solche Beispiele schildert er in seinem Buch Widerstehen. Versuche eines richtigen Lebens im falschen. Er habe damit empirisches Material für ein größeres Publikum gut lesbar präsentieren wollen, sagt Sutterlüty, habe in detektivischer Arbeit nach Menschen aus den unterschiedlichsten Berufsfeldern und Bereichen der Gesellschaft gesucht. Eine polnische Putzfrau, die in Luxushotels arbeitet, ist zum Beispiel dabei. Sie berichtet von ausgebeuteten, gedemütigten Kolleg:innen und hat sich gewerkschaftlich engagiert, um gegen die Situation anzugehen. Ihr schlagfertiges Handeln habe ihn beeindruckt, sagt Sutterlüty und liest eine Szene aus seinem Buch: Da liefert sich die Putzfrau in der vollbesetzten Straßenbahn ein Wortgefecht mit einem mürrischen Rassisten - und zeigt sich höflich, bestimmt und voll von funkelndem Sprachwitz.

Less is more

Es ist das Handwerkszeug des Menschenforschers, mit dem Sutterlüty seine Gespräche führte. Er beherrscht eine Interviewtechnik, die auf kleinste Nuancen achtet und darin neue Blickwinkel entdeckt. Er verbringt viel Zeit mit seinen Gesprächspartner:innen, transkribiert dann die Interviews und beginnt, sie literarisch zu bearbeiten. In der Anordnung der Gesprächsteile setzt er Techniken des Suspense ein und achtet gleichzeitig darauf, die Besonderheiten des Sprachgebrauchs seiner Gesprächspartner:innen beizubehalten. Ein Wackeln mit dem Zeigefinger braucht es nicht, sagt Sutterlüty. Diese Leute sagen nicht, was man tun müsste, sondern sie tun es. Sie legen keinen Wert darauf, öffentliche Helden zu sein. Sie achten nicht prioritär darauf, was andere von ihnen denken. Sie haben ihren eigenen Weg gefunden. Sutterlütys Buch schildert erfahrungsnah soziale Realitäten. An seinen Fallbeispielen wird klar: Die Wirklichkeit kritisiert sich selbst. Resümee des Autors: Man müsse sich um eine neue Definition dessen bemühen, was Wohlstand heißt.
Bedeutet das weniger ist mehr?, lautet eine Frage aus dem Publikum. Man könnte diesen Eindruck gewinnen, wenn man die Zukunftsvisionen hört, die Lara Hagen und Emilie Stecher (beide junge Vertreterinnen des Club Alpbach Vorarlberg) für das Jahr 2075 entwickelt haben. Doch der Verhaltensökonom Matthias Sutter fährt ihnen in die Parade. Er könne die Rede von weniger ist mehr nicht mehr hören. Statistisch gesehen sind wir glücklicher, wenn wir mehr haben. Es liege eben in der Natur des Menschen, sich mit anderen zu vergleichen und mehr zu wollen als der Nachbar hat.
Möglicherweise ist Sutter dabei entgangen, dass der Architekt Ludwig Mies van der Rohe sein berühmtes Bonmot less ist more als Frage der Eleganz verstand. Zu sehen ist das etwa an einem seiner berühmtesten Gebäude, dem Seagram Building in Manhattans Fifth Avenue. Mies ließ etwa ein Drittel des Grundstücks unverbaut. So entstand eine kleine Plaza mit einem Wasserbecken, in dem sich die umgebenden Hochhaus-Türme spiegeln. Die New Yorker schlossen diese Insel der Ruhe und des Durchatmens sofort ins Herz. So sehr, dass die Stadtverwaltung beschloss, Anreize für öffentliche Räume im Privatbesitz zu schaffen. Natürlich hatte der Bauherr Samuel Bronfmann weit mehr als die 90.000 Quadratmeter vermietbarer Bürofläche hinklotzen können. Die Rendite wäre höher gewesen. Aber less is more - an Eleganz, an Schönheit, an Gemeinsinn.

Ferdinand Sutterlüty: Widerstehen. Versuche eines richtigen Lebens im falschen, Hamburger Edition 2025, gebunden, 208 Seiten, ISBN 978-3868544008, € 19,95

Teilen: Facebook · E-Mail