„So lange es Hoffnung gibt, gibt es Leben!“
Die Überlebensgeschichte von Leokadia Justman
Werner Bundschuh · Mär 2025 · Literatur

Martin Thaler war drei Jahre alt, als er im März 1944 miterlebte, wie in der Wohnung seiner Mutter der jüdische Pole Jakub/Jakob Justman verhaftet wurde. Als Jahrzehnte später in Innsbruck die Ausstellung „Die Gerechten“ gezeigt wurde, bat er den Historiker Niko Hofinger auf Spurensuche nach seinen Kindheitserinnerungen zu gehen.

Niko Hofingers akribische Forschungen führten zu den Nachkommen von Leokadia („Lorraine“) Justman-Wiśnicki (1922–2002), der Tochter von Jakub in Florida. Sie hatte im Gegensatz zu ihrem Vater den Holocaust in Tirol überlebt. Unmittelbar nach Kriegsende verfasste sie ihre Flucht- und Überlebensgeschichte auf Polnisch. In den USA – dort lebte sie seit 1950 – folgten englische Übersetzungen und Erweiterungen. Ihr Sohn Jeffrey schickte das ergreifende Erinnerungsbuch „In Quest for Life – Ave Pax“ (erschienen 2003 in New York) nach Innsbruck. Jetzt liegt die deutsche Fassung „Brechen wir aus! Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol. Eine autobiografische Überlebensgeschichte“ vor. Die Herausgeber Niko Hofinger und Dominik Mark fügten der Edition einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat an, der äußerst wertvolle Zusatzinformationen enthält. Das Buch gibt wegen seiner Unmittelbarkeit einen einzigartigen Einblick in die NS-Zeit im Gau Tirol-Vorarlberg. Am internationalen Holocaustgedenktag (27.1.) wurde es mit einer Ausstellung im einstigen Arbeitszimmer von NS-Gauleiter Hofer im Landhaus in Innsbruck präsentiert. Ein symbolischer Akt, der von Jeffrey mit einem Augenzwinkern als „poetische Gerechtigkeit“ bezeichnet wurde.

Auf der Flucht

Leokadias Erinnerungsbericht über die Shoa weist auch Vorarlberg-Bezüge auf. Sie besuchte in Łódź das Gymnasium. Dort bringt es der Lustenauer Josef Hämmerle zum stellvertretenden Ghetto-Kommandanten. Circa 150.000 Juden und Jüdinnen wurden von hier aus in die Vernichtungslager von Chełmno (Kulmhof), Auschwitz oder Treblinka geschickt. Nur 8.000 überlebten. Die Familienodyssee der Justmans führt von Łódź in das Ghetto von Warschau, dann nach Piotrków. Dort wird ein Fluchtplan beschlossen. Mit falschen Papieren und Identitäten ausgestattet, macht sich eine achtköpfige jüdische Gruppe als „polnische Fremdarbeiter“ getarnt auf den Weg ins Reich. Mit dabei sind Leokadia und ihr Vater Jakub, Leokadias Mutter geht jedoch nicht mit. Sie steigt in den Zug nach Treblinka ein, dort, wo der Bregenzer Arzt Irmfried Eberl KZ-Aufbaukommandant ist. Ihre Tochter schildert die Entscheidung aus der Sicht ihrer Mutter so: „Das Einzige, was mir Kraft zum Überleben schenkt, falls es in Treblinka überhaupt eine Chance gibt, bist du. Die Gewissheit, dass du in Sicherheit bist und fern von alledem … Ich will nicht, dass du in diesen Zug steigst. Das ist mein fester Entschluss. Diese Entscheidung zu treffen, ist mir sehr schwer gefallen. Und deinem Vater noch schwerer. (...). Du bleibst bei ihm, und ich … fahre. Sonst bringen sie uns alle drei nach Treblinka. (…). Mit seinen blonden Haaren und seinem nordischen Aussehen wird er dich schützen und in Sicherheit bringen können. Das ist meine Entscheidung, mein Wille, mein Plan.“ (S. 92)
Die Mutter wird ermordet, Leokadia kommt im März 1943 als „katholische Polin Lotte Gralinska“ in einem Hotel in Seefeld unter, ihr Vater – laut Papiere nun ihr „Bruder“ – in Innsbruck. Er wird dort 1944 verhaftet und im AEL Reichenau exekutiert. Auch Leokadia entkommt der Gestapo nicht. Eine Freundin hat sich mit dem Spitzel Mikolaj eingelassen. Vermutlich handelt es sich dabei um Mikołaj Sokołowski, der ab 13.3.1942 in Hard gemeldet war. Er wurde im November 1943 festgenommen und als Kollaborateur von der Gestapo angeworben und lieferte über 100 Polen ans Messer.
Im Gefängnis machte Leokadia diverse Bekanntschaften: mit inhaftierten fanatischen Nationalsozialistinnen wie Gerda Jansen und Menschen wie die streng religiöse Maria Kudera aus Schlesien, deren Brüder Stefan und Marian in Innsbruck studierten und dort im Widerstand waren. Auch sie wurden von Mikolaj verraten und im April 1944 nach schwersten Folterungen in Dachau hingerichtet.
Leokadia überlebt die Haft im von alliierten Flugangriffen fast zerstörten Polizeigefängnis. Dort arbeitete sie in der Küche und schmiedete ihren Überlebensplan. In der Küche traf sie die Jugoslawin Caca Kozić, „eine winzige Frau mittleren Alters mit einem Körper, der von den Knüppeln der Gestapo blau geschlagen war.“ (S. 301) Die Herausgeber gingen jedem Namen, jeder Spur akribisch nach. Im Anmerkungsapparat sind die Ergebnisse festgehalten: „Caca Kozić: höchst wahrscheinlich Daniza Kozić (* 31.7.1909 in Belgrad) wohnte als Juristin in Bregenz. Am 15.11.1944 wurde sie im Innsbrucker Polizeigefängnis zur Verfügung der Gestapo inhaftiert; am 19.1.1945 ins KZ Ravensbrück deportiert.“

Anerkennung für Helfende

In letzter Sekunde entkommen Leokadia und ihre Freundin Marysia Fuchs der Deportation ins KZ – und überleben. Dazu waren verschiedene Helfende nötig. Die letzten Kriegstage übersteht Leokadia mit Hilfe des Pfarrers in St. Martin im Lungau.
Nach der Befreiung arbeitete Leokadia in Innsbruck als Sekretärin für das Jüdische Hilfskomitee und verfasste noch 1946 einen 500-Seiten-Bericht auf Polnisch, in dem sie ihre unglaubliche Überlebensgeschichte festhielt. Die letzten Worte in ihrem Erinnerungsbuch lauten: „Bewahren wir Frieden auf Erden! Ave Pax!“
Als in den 70er Jahren die meisten Helfenden schon verstorben waren, wollte Lorraine (wie Leokadia sich nun nennt), dass ihnen auch öffentlich Anerkennung gezollt werde. Sie vermittelte ihre Dokumente an die Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und acht Helfende, fünf Männer aus dem Innsbrucker Sicherheitsapparat und drei Frauen wurden im Jahr 1980 zu „Gerechten unter den Völkern“ erklärt – unbeachtet in Österreich.

Anton Dietz (1888–1960) war in der Innsbrucker Polizeidirektion und stellte den beiden Flüchtenden falsche Identitätskarten aus. 
Karl Dickbauer (1891–1976) verhinderte die Deportation.
Erwin Lutz (1908–1972) bemühte sich trotz seiner Mitgliedschaft bei der SS um die bestmögliche Versorgung der Gefangenen und ermöglichte die Flucht.
Rudolf Moser (1896–1956 ) von der Sanitätsstelle war aktiv im Tiroler Widerstand und half Leokadia und ihrer Freundin.
Wolfgang Neuschmid (1901–1977) war ab 1944 Leiter des Innsbrucker Polizeigefängnisses. In dieser Funktion bemühte er sich um humane Behandlung der Gefangenen und riskierte sein Leben, indem er Anweisungen der Gestapo missachtete.
Maria Petrykiewicz (1900–1981) und ihre Tochter Wanda Petrykiewicz-Bottesi (1923–2008) versteckten Leokadia, ebenso wie Marianne Stocker (1885–1969), die auch Deserteuren half.

Die Motivation dieser letztgenannten Helferinnen beschrieb Leokadia folgendermaßen: „Frau Maria Petrykiewicz war tief religiös und hielt es für eine Fügung Gottes, dass wir in ihr Haus gekommen waren. Sie dachte, und das dachte auch Marianne Stocker, dass Gott uns zu ihnen geführt hatte, um die Stärke ihres Glaubens auf die Probe zu stellen. Denn Gott zu lieben und an ihn zu glauben, bedeutete, die Menschen zu lieben und zu helfen, wo auch immer es notwendig war.“ (S. 318)
Leokadia steckte nach der Befreiung all ihr Herzblut in die Arbeit mit den Überlebenden. Ein Davongekommener war der Pole Józef Wiśnicki (1916–2016). Er sprang aus dem Zug, dessen Ziel Treblinka war. Von Fluchthelfern bekam er neue Papiere als polnischer Zivilarbeiter. „Als Ziel für seine Arbeitssuche hatte er Bludenz in Vorarlberg gewählt, weil es so nahe an Liechtenstein und der Schweiz liegt. Sehr nahe … doch dahin zu kommen, bedeutete höchste Gefahr. So gab er nach einer Weile die Idee, die Grenze zu überschreiten, auf und arbeitete stattdessen als Gärtner (in der Gärtnerei von Albert Schaub, Anm. W. B.). Im August 1944 wurde er verhaftet, weil er verdächtigt wurde, Jude zu sein, wurde aber nach einigen Wochen wieder frei gelassen und gegen Ende des Jahres 1944 wieder verhaftet. Anfang Jänner 1945 wurde er nach Innsbruck ins Lager Reichenau gebracht. Fast vier Monate Hunger und Misshandlungen. Doch eines Tages im Mai wachte er auf und alle Wachen waren weg.“ (S. 369)
Im September 1946 heirateten Leokadia (Lorraine) und Józef im Adambräu in Innsbruck und emigrierten in die USA. Auch von Józef liegt ein Erinnerungsband unter dem Titel „My Fight for Survival“ vor.
Seit 2024 widmet sich ein interdisziplinäres und internationales Projekt an der Universität Innsbruck der Erforschung und Herausgabe der Schriften von Leokadia Justman (Der Forschungsstand ist abrufbar unter: https://www.uibk.ac.at/de/projects/adia-justman/). ERINNERN:AT/Tirol bietet im Frühjahr zur Ausstellung und zum Buch ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Vorträgen, Theater- und Musikaufführungen, mit Diskussionsveranstaltungen und Schulführungen an.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der „KULTUR" März 2025 erschienen. Hier geht es zum E-Paper.

Leokadia Justmann: „Brechen wir aus! Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol. Eine autobiografische Überlebensgeschichte“. Tyrolia, Innsbruck 2025, 416 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-7022-4275-6, € 29

Ausstellung: bis 26.10.25
Mo – Fr 9 – 17 Uhr
Landhaus (Großer Saal), Innsbruck
www.tirol.gv.at/erinnern


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