Simon Mayer / Hannah Shakti Bühler erkunden auf witzige Art Heimatgefühle und Paarbeziehungen
Beim Finale des 30 Jahre tanz ist Festival-Jubiläums am Dornbirner Spielboden wurde auch viel gelacht
Peter Füssl ·
Okt 2024 · Tanz
Der 40-jährige, aus Oberösterreich stammende Tänzer, Choreograph und Musiker Simon Mayer, der es vom Bauernhof zum Wiener Staatsopernballett, zu Anne Teresa De Keersmaeker/Rosas und schließlich zur künstlerischen Selbständigkeit brachte, ist kein Kind von Traurigkeit. Mit seinen witzigen Identitätssuchen im Spannungsfeld von alpenländischer Tradition, Brauchtum und zeitgenössischem Tanz „SungBengSitting“ (2014) und „Sons of Sissy“ (2015) hat er das Publikum des tanz ist Festivals schon mehrfach bestens unterhalten. Erstmals am Spielboden zu Gast und somit eine aufregende Neuentdeckung war hingegen die in Süditalien aufgewachsene und in Deutschland lebende Tänzerin und Choreographin Hannah Shakti Bühler. Das Duo-Stück „Somatic Tratata“ erwies sich als eine wundervolle Spielwiese für dieses furiose Paar, das laut Bühler im „KULTUR“-Interview (Okt. 2024) „die Machtverhältnisse und die heteronormativen Rollenverteilungen in traditionellen Tanzformen hinterfragen und diese mit Humor und Spiel in Dialog mit zeitgenössischen Consent&Boundaries-Praktiken setzten möchte“.
Weitgehend selbstgemachter Soundtrack und spielerische Paaranalysen
Die Bezeichnung von „Somatic Tratata“ als Tanzkonzert trifft es sehr gut, denn die beiden Akteur:innen basteln sich von Anfang an ihren Soundtrack selber. Auf hölzernen Klappstühlen sitzend bewegen sie sich ruckweise und lautstark, mit rhythmischem Stampfen und Klatschen kombiniert, über die ganze Bühne. Daraus entsteht ein sehr exakter, alpenländisch anmutender Grundrhythmus, der auf einfallsreiche und witzige Weise abgewandelt und variiert wird. In den Slapstick-artigen Momenten werden Erinnerungen an die berühmte „Kniechen, Näschen, Öhrchen“-Szene von Stan Laurel und Oliver Hardy wach. Aber die Klatschmuster werden komplizierter und das Paar beginnt zu streiten. Unter die rhythmischen Laute mischen sich plötzlich auch Watschen, die man sich selber und dem Partner erteilt. Zwischendurch wälzt sich Bühler hysterisch lachend am Boden, während Mayer mit eigenartigen Lockerungsübungen beschäftigt ist.
Das wechselseitige Klatschen und Watschen entwickelt sich immer mehr zur spielerischen Paaranalyse, rhythmisierte Atemgeräusche und sonstige Lautschöpfungen werden lustvoll zum Soundtrack hinzugefügt. Eine Kuss-Szene gerät gar so intensiv und lange, dass eine Beatmungsübung erforderlich wird. Keuchen und Orgasmus-Geräusche werden zum neuen Grundrhythmus für absurde Schrittfolgen und Paartänze – vom Alpen-Rock ’n’ Roll bis zum Alpin-Pogo.
Elektronisches Zwischenspiel
Plötzlich werden in der Bühnenmitte zwei Mikros an langen Kabeln von der Decke heruntergelassen, während sich das Tanzpaar rund um einen auf den Boden projizierten Lichtkreis bewegt. Von der Ausstattung und den Lichteffekten kommt man mit einfachsten, aber wirkungsvollen Mitteln aus. Die Mikros werden in Schwung versetzt und verdrehen sich mehrfach ineinander und wieder auseinander, was eigene elektronisch generierte Sounds hervorbringt. Bühler singt auch Passagen aus dem von der Ostschweizer Video-, Objekt-, Computer-Künstlerin und Sängerin Pipilotti Rist stammenden „I’m a Victim of this Song“, einer eigenwilligen Cover-Version des höchst emotionalen Chris-Isaak-Hits „Wicked Game“.
Annäherung, Abstoßung und eine Striptease-Parodie
Während sich das Video zum 1989 veröffentlichten Original in kitschigen Liebesszenen ergeht, schreitet Rist in ihrem Video im himmelblauen Kleid zur betörend schönen Melodie die Straße entlang und zertrümmert mit einem langen Hammer Autoscheiben. Das passt natürlich bestens zur Diskrepanz zwischen Schwärmerei, Zuneigung, Liebe, Begehren, Rausch, unterschwelliger Aggression und Zerstörungswut, die auch den getanzten Paar-Ritualen von Mayer und Bühler zugrunde liegt – wobei hier aber auch der Humor immer eine ganz wesentliche Rolle spielt. So erleiden die beiden etwa Übelkeitsattacken, wenn sie sich zu nahekommen und versuchen folglich, in absurden Verrenkungen ihre Körper ganz eng ineinander zu verstricken, ohne sich zu berühren. Sie tragen sich wechselseitig durch die Gegend, setzen einander auf Stühlen ab, schleudern sich herum, er führt sie an ihren Haaren durch den Saal und dirigiert so auf drastische Weise ihre Bewegungen. Simon Mayer erklärt dazu im oben erwähnten „KULTUR“-Interview: „Je mehr wir uns mit den verschiedenen traditionellen Paar-Archetypen und Stereotypen beschäftigt haben, mit deren körperlichem Ausdruck im Alltag und vor allem im traditionellen Tanz, desto mehr wurden sowohl die körperlichen Merkmale dieser Archetypen klar, als auch die emotionale Innenwelt. Und vor allem die Unterdrückung von Emotionen, die in Partnerschaften immer wieder herrscht. [...] Somit wurde der freie und unzensierte Ausdruck von Emotionen eines der Kernthemen des Stücks.“
Letztlich führen diese schonungslosen tänzerischen Beziehungsanalysen zum sicherlich witzigsten Striptease der tanz ist Festival-Geschichte – oder eigentlich ist es eher eine Striptease-Parodie, die das Publikum mit lauten Lachern garnierte. Zum bereits erwähnten, vom Band eingespielten vokalen Schmeichel-Sound Pipilotti Rists geht’s humorvoll überaus umständlich und durchaus wieder slapstickartig zur Sache, wenn man/frau versucht, sich wechselseitig auszuziehen, oder wenn Bühler versucht, Mayers bestes Stück hinter einer Socke zu verstecken. Wenn dann endlich (fast) alles vollbracht ist, wird in einer Art Circle ending wie schon am Anfang der Rhythmus durch Klatschen und intensive Atemgeräusche erzeugt.
„Atem, Stimme, Bewegung“
Dies seien die drei Schlüsselelemente des Stücks „Somatic Tratata“, heißt es im Begleittext zur Produktion, was natürlich an Simon Mayers Solo-Performance „Being Moved“ aus dem Jahr 2021 erinnert. Dort stand der Zusammenhang von Atmung und Bewegung im Mittelpunkt und auch schamanistische Techniken bis hin zu Trance-Zuständen wurden angewendet. Ein effektvoll reduziertes Werk, mit leisen, aber sich auch in einem wirbelnden, ekstatischen Drehtanz steigernden Passagen – wobei die Atmung in Rhythmus und Intensität jeweils hörbar auf das tänzerische Geschehen abgestimmt war. In „Somatic Tratata“ treten – vielleicht nicht für das Tanzpaar, aber jedenfalls für das Publikum – diese Aspekte eher in den Hintergrund im Vergleich zur witzigen Identitätssuche bezüglich gewohnter Geschlechterrollen. Hannah Shakti Bühler im „KULTUR“-Interview: „In den letzten Jahren habe ich mich viel mit den Themen Heimat / Herkunft / Migration auseinandergesetzt, da ich in Italien aufgewachsen bin, kam ich auf die Spuren der süditalienischen Pizzica Tarantata bzw. der süditalienischen Rituale des Tarantismus. Mich fasziniert der Aspekt der Heilung, Transformation und des Empowerments dieser Rituale, in denen der Körper in einen Zustand des Bewegt-Werdens kommt: eine Art Trance, wo Rollen neu ausgelotet werden können, wo neue Möglichkeiten entstehen. [...] Humor ist uns ganz wichtig in ‚Somatic Tratata‘. Humor ermöglicht es auch, eine emotionale Distanz zu schaffen, um genau die ungewöhnlichen und lächerlichen Machtverhältnisse und Dynamiken sichtbar zu machen, und es hat auch etwas Befreiendes, etwas, was jeder kennt. Durch Wiederholungen und Verschiebungen, durch Fehler und durch Trance entstehen so auch für uns absurde Aktionen und Reaktionen, die im Idealfall Raum für etwas Unerwartetes, Unzensiertes lassen.“
Einladung zur Folkdanceparty
Im Anschluss an das Stück luden Simon Mayer und Hannah Shakti Bühler zu einer angeleiteten Folkdanceparty im Spielbodensaal ein, ein Angebot, das von erstaunlich vielen Tanzbegeisterten und Bewegungshungrigen angenommen wurde. Ob diese jenseits von Muskelkater auch noch etwas Unerwartetes, Bewusstseinserweiterndes erlebt haben, muss aber erst noch recherchiert werden.