Schweigen als Komplize – ein Verbrechen bleibt ungesühnt
Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ am Vorarlberger Landestheater
Dagmar Ullmann-Bautz · Feb 2025 · Theater

Unbedingt sehenswert! Gestern feierte „Rechnitz (Der Würgeengel)“ von Elfriede Jelinek eine großartige und zu Recht bejubelte Premiere am Vorarlberger Landestheater. Regisseurin Bérénice Hebenstreit und ihr Team haben den schwer spielbaren Text und den ebenso schwer erträglichen Inhalt in eine lebendige, spannende und bilderreiche Inszenierung verwandelt, die trotz des beklemmenden Themas überraschend zugänglich bleibt.

Grauenvolle Ereignisse in Rechnitz 

Jelineks Stück erzählt die grauenvolle und ungeheuerliche Geschichte, die sich Ende des Zweiten Weltkrieges im burgenländischen Rechnitz ereignet hat: die Ermordung von 200 jüdisch-ungarischen Zwangsarbeitern während eines rauschenden Festes auf dem Schloss der Gräfin Margit von Batthyány. Dort erschießen die Gräfin und ihre geladenen Gäste, NS-Größen und Nazi-Kollaborateure, rund 200 zuvor bereits aufs Äußerste gequälte Menschen. Ebenso thematisiert das Stück das anschließende Schweigen über diesen unfassbaren Vorfall, denn alle Täter – inklusive der Gräfin – blieben ungestraft. 

Jelineks kritische Stimme 

Elfriede Jelinek setzt sich in ihren Werken kritisch mit Österreich auseinander, was ihr neben dem Literaturnobelpreis (2006) auch den Ruf einer „Nestbeschmutzerin“ eingebracht hat. Ihre Themen – die fehlende Aufarbeitung des Nationalsozialismus, Österreichs Verantwortung für den Holocaust und die zunehmende Ausländerfeindlichkeit – beschäftigen sie seit Jahren. Jelineks Erzählweise ist unverwechselbar und intensiv: nie geradlinig, stets gespickt mit Verweisen und schwarzem Humor. In „Rechnitz“ lässt sie Boten von den grauenvollen Ereignissen berichten. 

Fein justierte Szenen und schwebende Klänge 

Bérénice Hebenstreit hat den Text gemeinsam mit Dramaturgin Jennifer Weiss förmlich seziert. Sie überführte Sätze in Bilder und Bewegungsabläufe, arbeitete Jelineks Wortwitz meisterhaft heraus und zeichnete Szenen mit größter Genauigkeit. Dabei hält sie Weinen und Lachen, Grauen und Humor, Hässlichkeit und Schönheit in einer ausgewogenen Balance. Die hervorragende musikalische Gestaltung von Michael Isenberg verdichtet die Atmosphäre zusätzlich und lässt manche Szenen nahezu schweben. 

Bühnenbild und Lichtkunst 

Bühne und Kostüme von Mira König beeindrucken mit ihrer Schönheit und verleihen dem Stück große Erzählkraft. Zunächst sieht man den kleinen, in die Jahre gekommenen Gemeindesaal mit seinem goldenen Portal, dann öffnet sich ein weites, strahlendes Kornfeld. Ergänzt wird dieses eindrucksvolle Bild durch die ausgewogene und kreative Lichtgestaltung von Tom Barcal. 

Ensemble in Bestform 

Vor allem aber sind es die fünf Schauspieler:innen, die den Abend sowohl einzeln als auch als Ensemble tragen. Mit feinem Gespür für Timing und Ausdruck eröffnen sie Welten, reißen das Publikum mit und begeistern restlos. Als Boten erfüllen sie im ersten Teil ihre Aufgabe, von den schrecklichen Ereignissen zu berichten, ohne selbst daran beteiligt gewesen zu sein – und das mit beeindruckender Präzision. Im zweiten Teil verkörpern sie Wildtiere und werden so zu stummen Zeugen des Grauens. Vivienne Causemann, Rebecca Hammermüller, Nurettin Kalfa, David Kopp und Anna Rot bewältigen den wortgewaltigen, sprachkreativen Text scheinbar mühelos, während sie sich zugleich bewegen, musizieren und singen – stets in einer herausragenden Bühnenpräsenz. 

Aktuelle Relevanz 

Gerade in dieser Form der Umsetzung ist das Stück heute von immenser Wichtigkeit. Die Inszenierung von Bérénice Hebenstreit und ihrem Team trifft ins Mark, weckt Mitgefühl und entfacht zugleich Wut – auf eine Elite, die egoistisch und überheblich agiert, und auf eine Gesellschaft, die Augen, Ohren und Herz verschließt, damals wie heute. 

Hinweis für das Publikum:
Eine Einführung durch das Theater oder weiterführende Informationen sind sehr hilfreich, um Jelineks vielschichtigen Text in seiner ganzen Tiefe zu erfassen. Zugleich ist es beruhigend zu wissen, dass man nicht jedes einzelne Wort oder jede Anspielung verstehen muss, um von der Wucht und Eindringlichkeit dieses Stückes erfasst zu werden. Begleitmaterial und das Programmheft sind hier zum Download verfügbar:
https://landestheater.org/spielplan/detail/rechnitz-der-wuergeengel/

Teilen: Facebook · E-Mail