Roy Hargrove’s Crisol: „Grande-Terre“ Peter Füssl · Nov 2024 · CD-Tipp

Manchmal nervt es ja, wenn die großen Labels ihre mit Live-Aufnahmen und (oft aus gutem Grund) nicht verwendeten Studio-Takes prall gefüllten Archive noch schnell gewinnbringend zu entrümpeln versuchen, indem sie noch ein weiteres Album mit leichten Variationen von Altbekanntem veröffentlichen. Hier hingegen haben wir es mit einem absoluten Glücksfall zu tun. Denn die im April 1998 im La Terreur Studio auf Grande-Terre, einer der Hauptinseln Guadeloupes, von Roy Hargrove’s Crisol aufgenommenen zehn Titel sind bislang unveröffentlicht und von einer absolut umwerfenden Qualität. Warum sie im Regal verstaubten, wissen die Götter – oder vielleicht einer der Label-Bosse. Das Erscheinungsdatum deckt sich nun jedenfalls mit dem 55. Geburtstag des leider schon 2018 an einem Herzversagen infolge eines chronischen Nierenleidens verstorbenen Trompeters und Flügelhornisten, der als virtuoser Instrumentalist und als stilistisch vielschichtiger Komponist Jazz-Geschichte geschrieben hat.

Vom Jazz-Traditionalisten-Guru Wynton Marsalis entdeckt und gefördert, veröffentlichte der Texaner anfangs Alben, die sich durchaus im Sinne seines großen Mentors auf höchstem Niveau und ebenso erfolgreich im Hardbop-Genre abspielten. Richtig interessant wurde es aber in den späten 1990-ern und frühen 2000-ern, als Hargrove seines „Young Lions“-Daseins müde wurde und als Mitglied des Black Music-Kollektivs Soulquarians unter anderem mit Common, Questlove, D’Angelo und Erykah Badu kooperierte, um schließlich mit seiner eigenen Band The RH Factor eine für die unterschiedlichsten Genres wegweisende Mischung aus Jazz, Soul, Funk und vor allem auch Hip-Hop zu präsentieren. 
Um dieselbe Zeit, nämlich 1997, gründete der Trompeter auch die zehnköpfige Band Roy Hargrove’s Crisol, was auf Spanisch „Schmelztiegel“ bedeutet und in der Tat Afro-Kubanisches und Neo-Bop auf dem Debütalbum „Habana“ zu einem dermaßen heißen und mitreißenden musikalischen Gebräu vermischte, dass der Grammy für „The Best Latin Jazz Album“ ein Jahr darauf nur eine logische Folge war. Von dieser Ur-Formation blieben aber nur der Posaunist Frank Lacy und der Perkussionist Miguel „Angá“ Diaz übrig, als Hargrove aus großteils jungen, auf jeden Fall aber hochmotivierten Musikern aus Kuba, den USA und Guadeloupe eine neue All-Star-Band formte und zu den Aufnahmen des nun vorliegenden Nachfolgealbums nach Grande-Terre einlud. Sie sollten auch ihre eigenen Kompositionen mitbringen, die in raffinierte, oftmals kraftstrotzende Arrangements gegossen, ohne allzu viele Proben live aufgenommen und nun ohne jegliche Overdubs oder nachträgliche Bearbeitungen veröffentlicht wurden. So wirkt alles sehr intensiv und absolut authentisch. Der hochenergetische, durch ein Perkussionsfeuerwerk und druckvolle Bläser vorangetriebene Opener „Rhumba Roy“ stammt von Pianist Gabriel Hernández, und auch „A Song For Audrey“ des Bassisten Gerald Cannon und „B and B“ des Gitarristen Ed Cherry entwickeln einen ordentlichen Latin-Groove. Als wunderschöne Latin-Ballade verzaubert „Another Time“ des Drummers Willie Jones, während „Lullaby From Atlantis“ des Tenorsaxophonisten Jacques Schwarz-Bart einen wahren Rausch an Sound-Farben entfacht. Völlig abgehoben aus dem siedend heißen Sound-Gebräu entfaltet das traumhafte, von Pianist Larry Willis komponierte Duett „Ethiopia“ mit Hargrove am Flügelhorn eine ganz besondere Wirkung, zumal das Stück direkt auf den im Schnellzug-Tempo dahinrasenden Cedar Walton-Klassiker „Afreaka“ aus den 1970-er Jahren folgt. Roy Hargrove selber steuerte drei Stücke bei: „Lake Danse“ reiht sich wie das durch ein gesungenes Intro eingestimmte „Priorities“ perfekt in die High Energy-Nummern ein, während das seiner Tochter gewidmete „Kamala’s Dance“ auf einer sonnenbeschienenen Latin-Wolke daherschwebt. Das Album überzeugt durch einen perfekt stimmigen, unglaublich groovenden Band-Sound, ausgefeilte Arrangements und exzellente, höchst expressive Soli, wobei neben dem damals erst 29-jährigen, von der Spieltechnik und Intensität her alles überragenden Bandleader besonders Posaunist Frank Lacy und die bereits erwähnten Schwartz-Bart und Willis Exzellentes lieferten. Die fünf Rhythmiker spielen in diesem afro-karibischen Jazz-Feuerwerk ohnehin ein rund einstündiges Dauersolo. Ein absolutes Hörvergnügen und ein schmerzhafter Hinweis auf die große Lücke, die der Tod des virtuosen Roy Hargrove in der zwischen Tradition und stilistischer Experimentierfreude pendelnden Jazz-Abteilung hinterlassen hat.

(Verve/Universal)

 Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR November 2024 erschienen.

Teilen: Facebook · E-Mail