PJ Harvey: „I Inside The Old Year Dying“ Peter Füssl · Sep 2023 · CD-Tipp

Man sollte es erst gar nicht versuchen, die Texte der zwölf neuen Songs auf PJ Harveys zehntem Longplayer inhaltlich zu verstehen. Denn im Gegensatz zu ihren beiden letzten Erfolgsalben „Let England Shake“ (2011) und „The Hope Six Demolition Project“ (2016), wo sie ihren Songs aus einem nahezu journalistischen Blickwinkel heraus kritische historische und aktuelle gesellschaftspolitische Themen – erst zu Großbritannien, später dann auch zu Afghanistan, dem Kosovo und Washington D.C. – zugrunde legte, kehrt sie nun wieder zum Intimen, zur Verinnerlichung zurück.

Allerdings mit enigmatischen Texten, die noch dazu mit selbst für englische Native Speaker unverständlichen Dialektausdrücken aus ihrer südwestenglischen Heimat, der Grafschaft Dorset, gespickt sind. Dabei adaptiert Harvey Teile ihrer letztes Jahr erschienenen, mythischen Verserzählung „Orlam“ über die neunjährige Protagonistin Ira-Abel, die begleitet vom blutenden Soldatengeist Wyman-Elvis und beschützt und geführt von Orlam, dem als Orakel dienenden Augapfel eines Lammes, durch eine verwunschene, fremdartige, nicht fassbare Phantasiewelt wandert. Auch wenn sich die Texte vom Verstand her nicht eindeutig fassen lassen, ist klar, dass es in dieser Coming-of-Age-Geschichte um Tod, Gott und ja, auch um Elvis geht, um den Verlust der Unschuld, um Sexualität, Liebe und Vergänglichkeit, um Sinnfindung und Selbstverwirklichung in einer konfusen, verwirrenden und furchterregenden, manchmal aber auch sonnenbeschienenen Welt. Die emotionale Ebene, auf die das abzielt, tut sich rasch auf, zumal PJ Harvey auch den absolut passenden Soundtrack dazu gefunden hat. Dabei war es gar nicht sicher, dass die von der stets fordernden Musikmaschinerie einigermaßen ausgebrannte Alternative-Singersongwriterin überhaupt noch einmal zu ihrem eigentlichen Metier zurückkehren wird, hatte sie sich in den letzten Jahren doch – von ein bisschen Filmmusik abgesehen – aufs Schreiben und die Bildhauerei verlegt. Schließlich schaffte sie es mit Hilfe ihrer Langzeitweggefährten John Parish und Mark Ellis aka Flood als Produzenten – sie hatte seit dem 1995-er Album „To Bring You My Love“ vielfach mit ihnen zusammengearbeitet – aus der Schaffenskrise. Sie destillierten die grundlegenden Soundideen aus gemeinsamen Improvisationen heraus, setzten wenig Instrumentarium durchwegs minimalistisch, dafür oft reichlich verzerrt und verfremdet ein, integrierten elektronische Klänge, Störgeräusche, Flüsterstimmen, Noise-Attacken und Field-Recordings zwitschernder Vögel und blökender Schafe. So erschufen sie eine raue, rumpelnde, irgendwie rudimentär wirkende und trotzdem stimmige und perfekte, an Folk, Rock, Blues und Elektronik angelehnte Klangwelt für die Sängerin, die mit ihrer hörbar gereiften Stimme permanent an ihre Grenzen geht, bis hin zu einem eigenartig klingenden Falsett oder verzerrter Elektronikstimme, damit es, wie sie „Pitchfork“ erzählte, ja nicht nach „meiner PJ Harvey-Stimme“ klingt. Was es erfreulicherweise natürlich trotzdem tut – schließlich zählten unkonventionelle Ausritte und unvorhersehbare Twists and Turns immer schon zu ihrer Trademark. Poesie statt Politik steht ihr gut, und „I Inside The Old Year Dying” zählt sicher zu den besten Alben der mittlerweile 53-jährigen Engländerin, die auch nach sieben Jahren selbstgewählter Absenz aus dem großen Zirkus nichts von ihrer charismatischen Wirkung eingebüßt hat. (Partisan Records)

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR September 2023 erschienen.

Konzert-Tipp: 15. und 16.10. Volkshaus Zürich 

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