Nichts als strahlendes C-Dur
Bruno Oberhammer setzte in seiner Orgelkonzertreihe „Wege Bachs“ in Höchst neue Akzente.
Fritz Jurmann ·
Mai 2025 · Musik
Im Fernsehen würde man so etwas „Spin-off“ nennen, wenn man aus einer erfolgreichen TV-Reihe heraus als inhaltliche Weiterentwicklung eine neue Serie mit bekannten Inhalten als Ableger entwickelt. Bruno Oberhammer, der seit Jahrzehnten neben Auslandsverpflichtungen auch mit immer neuen Ideen zu spannenden Konzertereignissen an die Rieger-Orgel seiner Heimatgemeinde Höchst lädt, hat sich im künstlerischen Bereich dieses Prinzip zu eigen gemacht.
Er leitete aus seinem unglaublichen Kraftakt eines kompletten Zyklus aller Orgelwerke Johann Sebastian Bachs in 20 Konzerten in den Jahren von 2007 bis 2011 eine weitere Reihe unter dem Titel „Wege Bachs“ ab, die neue Perspektiven rund um den großen Barockmeister aufzeigen sollte: Wer hat vor Bach den Meister geprägt, welche Folgewirkungen hat Bach bis heute mit seinen Werken in der Musikwelt ausgelöst?
Im Vorjahr wurde das zehnjährige Bestehen dieser Reihe gefeiert, vergangenen Montag gab es in Höchst ein weiteres Jubiläum mit Konzert Nummer XX, wie Oberhammer das in alter Bach-Manier oder wie der Papst bis heute mit römischen Ziffern zu bezeichnen pflegt. Für humanistisch weniger Gebildete: Das ist das Konzert Nr. 20.
Mit Musik Gefühle wecken
Und auch inhaltlich bietet er seinem Publikum diesmal neue Denkansätze, die durchaus nicht allen geläufig sind. Es ist die seit dem Altertum bekannte Tatsache, dass man mit Musik Affekte erzeugen und steuern kann, dass Gefühle wie Freude, Trauer oder Schmerz über die Musik auch beim Zuhörenden hervorgerufen werden. Eigentlich logisch, denkt man sich, aber Oberhammer begnügt sich nicht damit und liefert darüber hinaus im Programmheft eine Reihe lesenswerter musikwissenschaftlicher Argumente über Entstehung und Entwicklung dieser spannenden Symbiose. Als praktisches Beispiel bietet er gleich einen ganzen Abend in der wohl gängigsten Tonart C-Dur an, die seit alters her pure Freude, Wohlgefühl, Glück und viele andere Emotionen in einem positiven Sinn bedeutet und von Komponist:innen aller Epochen, bevorzugt etwa von Haydn, Mozart oder Beethoven, auch immer wieder gerne verwendet wurde.
Und natürlich auch bereits im Hoch- und Spätbarock, im grob gefassten Zeitraum von 1650 bis zu Bachs Todesjahr 1750, findet man zahlreiche, kompositorisch oft großartige Beispiele für diese Verknüpfung von Affekten mit Musik. Oberhammer hat bei diesem Konzert die beteiligten Tonschöpfer streng chronologisch und systematisch geordnet, mit Bach als strahlendem Mittelpunkt und unangefochtenem geistigen Zentrum im Sinn dieser Reihe. Den Anfang macht der frühe Johann Jakob Froberger mit einer mehrteiligen Toccata in C-Dur, die quasi den Boden für das Folgende aufbereitet. In seiner musikhistorisch bemerkenswerten Hexachord-Fantasie kostet er diese auf den gregorianischen Gesang zurückreichende Folge von sechs aufeinanderfolgenden Tönen weidlich aus, mit viel Chromatik angereichert und harmonischen Wendungen, die in ihrer Modernität weit in die Zukunft reichen.
Bachs Fußmarsch über 400 km
Bach hat das Werk studienhalber abgeschrieben und als Zwanzigjähriger die 400 Kilometer Fußmarsch von Thüringen bis Lübeck in Kauf genommen, um beim dortigen Orgelmeister Dietrich Buxtehude u. a. die Möglichkeiten einer virtuosen Pedalbehandlung an der Orgel zu studieren. Oberhammer ist an seiner geliebten „Hausorgel“ von Höchst auch heute noch „gut zu Fuß“ unterwegs und bringt als Beispiel Buxtehudes Präludium, Fuge und Ciacona in C-Dur mit Pedalsätzen zu Gehör, dass man nur so staunen kann.
Buxtehude ist auch einer jener Komponisten, die an diesem Abend ihre Freude an der Freude und am strahlenden C-Dur auch mit einer Choralbearbeitung ausdrücken dürfen, „Der Tag, der ist so freudenreich“. Gemeint ist damit die Geburt Christi. Oberhammer verströmt dazu mit einem reich verzierten Zungenregister als Cantus firmus fast weihnachtliche Heimeligkeit. In ähnlicher Klanglichkeit finden auch die auf Martin Luther zurückgehende Choralbearbeitung „Nun freut euch, liebe Christen g’mein“ von Bach und die Auferstehungsfantasie „Freu dich sehr, o meine Seele“ von Johann Ludwig Krebs mit ihren zarten Flötenumspielungen Ausdruck.
Als zentraler Mittel- und Glanzpunkt im Grundgerüst des Programms steht wie ein unverrückbarer Pfeiler Bachs frühe großartige Kombination von Toccata, Adagio und Fuge in C-Dur, BWV 564, und bietet Bruno Oberhammer Ansporn für die Entfaltung höchster Leistungskraft, Originalität und Ausdrucksfähigkeit. Dieses nach Antonio Vivaldi entstandene „Italienische Konzert Bachs“ bietet ihm als Besonderheit eine virtuose Manual- und Pedaleinleitung sowie eine siebenstimmige, harmonisch reich ausgeweitete Grave-Überleitung zur Fuge, die er in ihrer kontrapunktischen Genialität exakt aus den Tasten meißelt. Ein ähnlich aufgebautes Werk, Präludium, Adagio und Fuge in C-Dur von Bachs Meisterschüler Johann Ludwig Krebs zeigt oft interessante Parallelen, erreicht aber nie die überragende Qualität seines Lehrmeisters Bach und bleibt ein, wenn auch eindrückliches, Zeugnis der Nach-Bach-Ära.
Das Bach-Virus hat ihn lebenslang nie losgelassen
Bruno Oberhammer aber hat mit diesem Konzert der Reihe „Wege Bachs“ auch im beeindruckenden Alter kurz vor seinem 79. Geburtstag erneut seine Klasse als einer der kompetentesten und interessantesten Bach-Interpreten weitum bewiesen. Als einer, den das Bach-Virus lebenslang nicht losgelassen hat, ebenso wie die Verehrung für diesen Großmeister der barocken Orgelmusik. Und es bedrückt einen, dass er den erheblichen Vorbereitungs- und Probenaufwand für ein so umfangreiches und forderndes einstündiges Programm vor einer nur sehr spärlichen Zuhörer:innenkulisse in der riesigen Kirche von Höchst abliefern kann: eine missionarische Aufgabe am untauglichen Objekt.
Gibt es in dieser Gemeinde oder der Region wirklich nicht mehr Interesse an dieser zentralen Komponistenpersönlichkeit der abendländischen Musik und einem Interpreten, der sich sprichwörtlich mit Haut und Haaren diesem Anliegen verschrieben hat? Und das auch noch „um Gotteslohn“, denn die knappen Einnahmen aus den Spenden bei freiem Eintritt werden an Elmar Stüttlers Aktion „Tischlein deck dich“ überwiesen.