Neuer Roman „Chimäre“ von Sarah Kuratle
Wider die Eintönigkeit
Annette Raschner · Sep 2025 · Literatur

Vor vier Jahren wurde die Literaturszene auf eine neue, junge Stimme aufmerksam. Sarah Kuratle legte mit „Greta und Jannis“ ihren Debütroman vor. Die 1989 in Bad Ischl geborene und in Vorarlberg und der Schweiz aufgewachsene Autorin überzeugte mit einer sprachlich fein komponierten, verbotenen Liebesgeschichte, die untrennbar mit Schuld verwoben ist. „Greta und Jannis“ schaffte es 2022 auf die Shortlist für den Literaturpreis „Text & Sprache“. Die Jahre zuvor waren Gedichte und Erzählungen der studierten Germanistin und Philosophin in den österreichischen Literaturzeitschriften „manuskripte“ und „wespennest“ abgedruckt worden. Nun ist im Otto Müller Verlag der zweite Roman von Sarah Kuratle erschienen: „Chimäre“.

Alice und Gregor 

Eigentlich hatte Sarah Kuratle vorgesehen, auch ihren zweiten Roman nach einem Liebespaar zu benennen, aus deren Perspektiven sie, jeweils alternierend, ihre neue Geschichte erzählt. Doch schon bei der Verwendung des Begriffs Liebespaar beginnt man als Rezensentin zu zögern. So zart, so schwebend leicht beschreibt Sarah Kuratle die besondere Beziehung zweier junger Menschen, die einander in Freundschaft verlassen, um zu sich selbst zu finden. „Sie erinnert sich an frühe Morgen im Garten im Frühling. Vogelnester, entpuppte Schmetterlinge, ein Hase, der sich streckt. An ihren Lippen Tee, grüne Blätter, ein Veilchen. Das erste, flüsterte Gregor, drückte sie am Handgelenk. Sie schaute ihn an, er ließ los.“

Die Insel, ein utopischer oder ein dystopischer Ort?

Schauplatz der weder zeitlich noch geografisch verorteten Geschichte ist eine Insel, auf der eine Männergemeinschaft aus Lehrern und Schülern um den Erhalt der nur noch hier intakten Artenvielfalt kämpft. Alice gibt sich als Alois aus, um als vermeintlicher Mann im Kolleg leben zu dürfen, dem auch Gregor angehört, seit er eines Tages im Fluss, in den er gefallen war, bis zur Insel getrieben wurde. Die beiden freunden sich an, doch Alice verlässt Gregor und die Insel, da sie deren Abgeschlossenheit nicht mehr erträgt und in der menschenleeren Weite des Festlands der Sinnhaftigkeit ihrer Existenz nachspüren möchte. „Den Mantel lässt sie hängen, steigt durchs Fenster aufs Eis. Sie will, wenn sie nicht einbricht, zu diesem Baum im See, zur Hälfte in der Luft. Halb Wasser, halb Wind, eine Chimäre, das will sie auch sein. Wenn sie auftaucht, ein Vogel. Absinkt, ein Fisch.“ 

Intertextualität – Amor, Psyche und Alice 

Sie sei ein Mensch, der das Schreiben brauche, um gute Gedanken fassen zu können, sagt Sarah Kuratle im Gespräch. Doch dem Schreiben geht jeweils ein intensiver Leseprozess voran. Ihre atmosphärisch dichten Textgewebe sind an intertextuellen Bezügen reich. Wenn Gregor eines Nachts auf der Insel die Stimme einer Unbekannten hört, die ihn darum bittet, sie wie die Pflanzen zu vermessen, wenn er sie, Tera, bei sich im Bett schlafen lässt und sie darauf besteht, dass er sie dabei nicht ansieht, dann erzählt Sarah Kuratle auch die Geschichte von Amor und Psyche mit – die Liebe zwischen einem Übernatürlichen und einer Sterblichen. „Zittrig hebt er seine zweite Hand, treffen ihre vier Hände an ihren Rändern, den Umrissen zusammen. Zwischen den Fingern wird es eng und warm, wieder feucht. Ihre Kleider fast trocken schütteln sie ab, ihre Finger wandern weiter. Sie nimmt seine Brille, lass die Augen zu, Gregor, drückt seinen Rücken in den Sand. Hart wird es, weich, härter, als sie auf ihm sitzt, er unten liegt. Vom See her hört er die Wellen, wie er sie spürt, wie Musik.“ 
Dass Sarah Kuratles literarische Heimat die Lyrik ist, wird in jeder Beobachtung, jeder Beschreibung deutlich. Sie erzählt nicht linear, sondern mäandernd, umkreist ihre Figuren achtsam und sorgfältig und lässt ihnen ihr Geheimnis. Die Themen sind sehr nahe an der Gegenwart: Identitätsverlust, Artenschwund, Traumabewältigung. Gregor ist als Kind sexuell missbraucht worden und auch Alice hat eine Form des Missbrauchs, die Vernachlässigung, erlebt. „Tage, eigentlich Jahre saß sie fest, ich bin Alice, das war sie meistens bloß für sich.“
Die Wahl des weiblichen Vornamens war natürlich kein Produkt des Zufalls. Lewis Carrolls fantastische Wunderwelt aus seinem 1865 erschienenen Klassiker „Alice im Wunderland“ sowie dessen Fortsetzung „Alice hinter den Spiegeln“ war nicht nur motivisch maßgeblich für „Chimäre“, in dem unter anderem auch eine labyrinthische Wasserwelt und ein Hase vorkommen. Sarah Kuratle war in erster Linie inspiriert von Carrolls „Ver-rücken“ von Konventionen und dessen Sprachwitz. „Chimäre“ besitzt zwar nicht die Subversivität, die anarchistische Verve und die herausragende Satire des berühmten Kinderbuchs, aber auch in ihrem Roman führt sie Althergebrachtes ad absurdum, indem sie Alternativen unseres Umgangs mit der Natur und mit unseren Mitmenschen nachspürt. Es ist ein vielstimmiges, mehrdeutiges Plädoyer für Achtsamkeit und eine berührende Hommage an die Vielfalt und Buntheit des Lebens. Die akribische Komposition erfordert Konzentration beim Lesen. Wer diese mitbringt, wird belohnt!

Annette Raschner ist Redakteurin im ORF-Landesstudio Vorarlberg.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR September 2025 erschienen. Hier geht es zum E-Paper.

Sarah Kuratle: Chimäre. Otto Müller Verlag, Wien, 2025, 160 Seiten, kartonierter Pappband, ISBN 978-3-7013-1334-1, € 23

Lesungen: Mi, 10.9., Theater am Kornmarkt, Bregenz 
Do, 4.12., Stadtbibliothek, Dornbirn
Do, 11.12., Hotel Sonnenburg, Lech

www.sarah-kuratle.com 

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