Neu in den Kinos: „Tótem“ Michael Pekler · Dez 2023 · Film

Im mexikanische Familiendrama von Lila Avilés nimmt ein siebenjähriges Kind Abschied von seinem kranken Vater. Ein Film über die Hoffnung und Traurigkeit, über die man hinweglächelt, wenn einem gar nichts anderes übrigbleibt.

Oft sind es die scheinbar unbedeutenden Geschichten, die einen tieferen Eindruck hinterlassen als die großen Dramen und weltbewegenden Schicksale. „Tótem“ erzählt eine solche Geschichte, wie man sie im Kino schon lange nicht mehr gesehen hat, auf ganz besondere Weise: leise, einnehmend, sorgsam. Und übt gerade deshalb eine ganz besondere Faszination aus.
Im Mittelpunkt dieses mexikanischen Familiendramas steht die siebenjährige Sol (Naíma Sentíes), die zu Beginn von ihrer Mutter, die für die nächsten Stunden beruflich ins Theater muss, in das Haus des Großvaters gebracht wird. Dort soll am Abend ein großes Geburtstagsfest für Sols bettlägerigen Vater Tona stattfinden. Der junge Mann leidet unter einer schweren Krebserkrankung und verlässt, deutlich gezeichnet, kaum noch das abgedunkelte Schlafzimmer. Die Mutter verabschiedet sich und lässt Sol bei der Familie zurück. Das Mädchen möchte seinen Vater sehen, was ihm seine Tanten Nuri (Montserrat Marañón) und Alejandra (Marisol Gasé) jedoch nicht erlauben: Tona muss sich schonen, um später am Fest teilnehmen zu können. Selbst sind die beiden Frauen mit den unterschiedlichsten Vorbereitungen beschäftigt: das Haus putzen, den Garten vorbereiten, Kuchen backen, die Pflegehelferin bezahlen, Haare waschen und färben sowie die eigens bestellte Geisterjägerin das Böse verbannen lassen. Die nimmt dann um fünfhundert Pesos mehr, weil das eine schwierige Arbeit war. 
Der semidokumentarische Stil, den Regisseurin Lila Avilés wie bereits für ihr Langfilmdebüt „La camarista“ – über den Arbeitsalltag eines Zimmermädchens in einem Luxushotel in Mexiko-Stadt – gewählt hat, gewährt den Blick auf das Nebensächliche, dem im Laufe des Nachmittags große Bedeutung zukommt. Aus der Perspektive Sols wandert der Film zunächst wie ein stiller und gerade deshalb besonders aufmerksamer Beobachter durch das Haus, hört die Gespräche der Tanten über Chemotherapien, Schmerzmittel und finanzielle Nöte mit, sieht einer Wohnungskatze, den renitenten Cousinen und Tonas altem Vater beim Schneiden eines Bonsai-Baums zu. „Tótem“ spielt fast ausschließlich im Haus und Garten der Familie, wie eine Sammlung verdichteter Miniaturen. Gefilmt im klassischen engen Bildformat entwickelt sich derart ein Kammerspiel mit lose aufeinander folgenden Szenen, die zwar auf einen gemeinsamen Höhepunkt – das abendliche Fest – zusteuern, aber doch als einzelne, kleine Erzählungen funktionieren. Und im Laufe derer es sich gut beobachten lässt, wie die Familienmitglieder als Teile eines fragil gewordenen Systems kommunizieren: Man streitet, verdrängt, tröstet oder schweigt.

Flügelschläge

Denn das Unvermeidliche, es kommt so langsam zum Vorschein wie Tona aus seinem Zimmer, in das er sogar, obwohl alles auf ihn wartet, noch einmal zurückkehren muss. Doch bevor es soweit ist, kommt Sol zu ihm. Langsam und schüchtern. Der Vater, voller Sorge und doch mit einem Lächeln, hat ein Geschenk für die Tochter. Es ist ein gemaltes Bild, die Farbe ist noch feucht. „Damit du es anschauen kannst, wann du willst“, sagt er. „Weil manchmal kann man die Dinge, die man liebt, nicht sehen. Aber sie sind trotzdem bei dir.“ Worauf Sol verständnisvoll nickt und weiß, dass Kolibris eine Millionen Mal mit den Flügeln schlagen. 
„Tótem“, die mexikanische Einreichung für den Auslandsoscar, ist ein Film voller Schwermut und zugleich voller Zärtlichkeit. Ein Film über die Hoffnung und die Traurigkeit, über die man hinweglächelt, wenn einem gar nichts anderes übrigbleibt. „Man fabelt davon, dass die Liebe blind sei“, schrieb R. W. Emerson, „aber es gibt keine Erkenntnis ohne Güte.“ Einer solchen Erkenntnis bedarf es auch beim Abschiednehmen. „Die Liebe ist keine Augenbinde, sondern ein Augenwasser.“ 

Filmforum Bregenz, ab 7.12., 20 Uhr

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