Neu in den Kinos: „The Outrun“ Michael Pekler · Dez 2024 · Film

Saoirse Ronan brilliert in der Rolle einer alkoholkranken jungen Frau, die sich auf die Orkney-Inseln zurückzieht, um wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Nora Fingscheidt („Systemsprenger“) hat die Memoiren der Journalistin Amy Liptrot als mitreißendes Sozialdrama adaptiert.

Das Leben besteht aus einer Abfolge von Wahrscheinlichkeiten. Natürlich bietet es auch unzählige Möglichkeiten, die man ergreifen kann oder nicht. Doch manchmal liegen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit recht eng beieinander.
Wenn Rona (Saoirse Ronan) sich zum Beispiel in eine einsame Hütte auf einer Insel zurückzieht, um endlich vom Alkohol loszukommen, ist ein therapeutischer Erfolg wahrscheinlich. Sie muss nur im Kaufmannsladen, wenn sie sich Lebensmittel und Tabak besorgt, angesichts der Weinflaschen im Hintergrund stark bleiben und behaupten, dass sie nichts weiter brauche. Wenn sie allerdings später ihren Vater besucht und bei ihm noch ein Glas Rotwein vom Vorabend findet, kann sie der Versuchung, den Finger einzutauchen und wenigstens einen Tropfen zu kosten, kaum widerstehen. Womit die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall plötzlich sehr groß ist.
Es ist eine der schönsten Ideen dieses Films, den Gesetzen der Natur wiederholt die menschliche Schwäche gegenüberzustellen. Ist es wahrscheinlicher, dass Rona wieder zum Glas greift oder dass sie wie ihr Vater an einer bipolaren Störung erkrankt? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Entzugsprogramm erfolgreich abschließt, liegt bei unter zehn Prozent, wie Rona nüchtern feststellt, das sind bedeutend weniger als etwa die genetische Übereinstimmung zwischen Mensch und Robben.

Im Mondschein tanzen

Robben spielen in „The Outrun“ deshalb eine Rolle, weil die 29-jährige Rona von den Orkney-Inseln stammt. Dort verwandeln sich die Ertrunkenen einer Legende zufolge in Seehunde, um nachts wieder in Menschengestalt im Mondschein zu tanzen. Wenn sie dabei allerdings gesehen werden, bleiben sie in ihren menschlichen Körpern gefangen und können nie mehr glücklich werden. Auch Rona tanzt zu Beginn des Films, jedoch spätnachts in einem Pub, aus dem sie, wieder einmal betrunken, geworfen wird. „Ich werde nüchtern nie glücklich sein“, meint sie später in diesem Film, und sofort stellt man sich vor, wie groß die Wahrscheinlichkeit für dieses Unglück ist.
Rona ist Biologin und lebt in London. Eigentlich sollte sie ihrer Studienarbeit schreiben, doch der Alkohol lässt das nicht zu. Der empathische Freund (Paapa Essiedu) kann ihr nicht mehr helfen und verlässt sie, Rona wiederum verlässt nach einer Entzugstherapie die Metropole und taucht nach Jahren wieder zuhause in Schottland auf. Die Eltern leben getrennt, der psychisch kranke Vater hat die Schaffarm verkauft und haust in einem Wellblechcontainer. „Wenn du in Orkney durchdrehst, fliegen sie dich raus“, meint Rona. Die Mutter ist in die Gottesfurcht geflüchtet, doch der Glaube versetzt keine Berge. Für Rona ist die Insel ein Refugium und die vielleicht letzte Möglichkeit auf ein neues Leben.

Ungeheuer und Meeresgrollen

Mit „The Outrun“ schließt die deutsche Filmemacherin Nora Fingscheidt perspektivisch in gewisser Weise an ihre bisherigen Arbeiten an: Im viel beachteten Debüt „Systemsprenger“ scheitert das sogenannte System daran, ein neunjähriges Mädchen mit extremen Wutanfällen in die verschiedenen familiären und pädagogischen Institutionen einzugliedern. Fingscheidts voriger Film, das Netflix-Drama „The Unforgivable“ mit Sandra Bullock, handelte von einer nach zwanzig Jahren aus der Haft entlassenen Mörderin, die versucht, Kontakt zu ihrer jüngeren Schwester herzustellen und aufgrund ihrer Stigmatisierung als „cop killer“ an ihrem Umfeld scheitert. 
„The Outrun“ lässt uns wiederholt in Ronas Gedankenwelt eintauchen und verweist damit auf die gleichnamige Vorlage der schottischen Journalistin Amy Liptrot, die 2016 ihre Memoiren (dt.: „Nachtlichter“) veröffentlichte. Liptrot, die nun als Co-Autorin des Films verantwortlich zeichnet, beschreibt darin ihren Versuch, ihr selbstzerstörerisches Leben in London hinter sich zu lassen.
Bemerkenswert an dieser Adaptierung sind ihre wiederholten Illustrierungen anhand von Archivmaterial oder kurzen Animationen: Sind militärische Unterwasserexperimente, geflutete Höhlen oder doch ein seit Kindertagen als Albtraum existierendes Ungeheuer für das ständige Meeresgrollen verantwortlich? Fingscheidt und Liptrot geben solchen irritierenden Einschüben, Rückblenden und Zeitsprüngen den Vorzug gegenüber einer linearen Geschichte über einen tiefen Fall und langsamen Wiederaufstieg. Stattdessen bietet die sprunghafte Erzählung zur Orientierung oft nicht mehr als Ronas blau gefärbte Haare.
„The Outrun“ erzählt aus der Distanz mit unmittelbarer Nähe: Obwohl man sie in fast jeder Szene oft buchstäblich hautnah erlebt, fürchtet man stets, Rona aus den Augen zu verlieren. Doch das gilt auch für den möglichen Weg, der noch vor einem liegt, wenn man zu lange auf den zurückblickt, den man schon beschritten hat.

Jetzt in den Kinos (auch im SKINO Schaan), ab 26.12. im Metro Kino Bregenz

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