Neu in den Kinos: „The Holdovers“ Michael Pekler · Jän 2024 · Film

Ein zynischer Geschichtslehrer und ein renitenter Schüler sind gezwungen, die Weihnachtsferien zusammen im Internat zu verbringen. In seiner formidablen Tragikomödie erzählt US-Autor Alexander Payne einmal mehr von den Schwierigkeiten des Menschseins und des menschlichen Daseins. Und hat mit Paul Giamatti den vermutlich besten Darsteller für die Rolle des vom Leben enttäuschten Professors gefunden.

Wenn Weihnachten vor der Türe steht, passiert meist Unerwartetes. Als Geschichtslehrer ist Paul Hunham (Paul Giamatti) vor bösen Überraschungen im Klassenzimmer gefeit, die jahrzehntealte Verbitterung hat ihn zum Zyniker werden lassen. Schlechte Noten zu vergeben ist seine Leidenschaft. Lässt ein Schüler sich ein Vergehen zuschulden kommen, wird selbstverständlich die ganze Klasse bestraft. Schließlich unterrichtet Hunham Geschichte und nicht Pädagogik. 
Dass er die anstehenden Ferien allerdings als Aufsichtslehrer für Schüler verbringen soll, die aus familiären Gründen im Internat bleiben müssen – die im Titel genannten „Überbleibsel" –, gefällt ihm gar nicht. Nicht dass er irgendwelche sozialen Verpflichtungen hätte, seine besten Freunde sind die Alten Römer, seine Bücher und seine Pfeife. Und der Whisky. Doch die kommenden Weihnachtstage mit verzogenen Halbwüchsigen und einer afroamerikanische Köchin zu überstehen, entspricht nicht seinen Erwartungen an die Feiertage. Da hätte er dem Sohn eines reichen Gönners der Privatschule besser eine gute Note auf eine schlechte Arbeit geben müssen und sich die Vorladung beim Direktor sparen können.
„The Holdovers“ beginnt mit ausgedehnten Kamerafahrten durch das elitäre Internat, wo Ende der Sechzigerjahre alteingesessenes Patriarchat auf jugendlichen Freiheitsdrang trifft. Im Speisesaal herrschen strenge Hierarchie und Kleidungsvorschrift, in den Zimmern Anarchie und Populärkultur. Die älteren Semester verachten die jüngeren, und hat man nicht im Klassenraum den gemeinsamen Feind vor sich, findet man später einen gleichaltrigen im Zimmer. 

Denkwürdige Geschichten

Alexander Payne gilt als einer der führenden Vertreter der amerikanischen Tragikomödie – ein Ruf, den sich der Autor und Regisseur mit Filmen wie „About Schmidt“, „Sideways" und „The Descendants“ erarbeitete und dem er zuletzt mit der skurrilen Komödie „Downsizing“, in der sich Matt Damon für ein Luxusleben im Kleinformat schrumpfen lässt, gerecht wurde. Die große Stärke von Payne ist dabei weniger die klassische Form der Inszenierung als das Erzählen von denkwürdigen Geschichten über das Menschsein und die Menschlichkeit. Warum verbringen wir ständig so viel Zeit damit, um etwas zu erreichen, was wir gar nicht brauchen? Und wer bestimmt eigentlich, was wir vermeintlich alle wollen? Am Ende sind es vielleicht gar nicht geldgierige Konzerne und eine vergnügungssüchtige Gesellschaft, sondern wir selbst: Braucht man wie Hunham seine Ruhe und ausreichend Hochprozentiges tatsächlich – oder nur weil man sich als Geschichtslehrer mir der eigenen Geschichte nicht abfinden kann? 
Als sich kurz vor dem Fest überraschend doch noch einige Schüler verabschieden, bleibt Hunham mit einem einzigen Schüler zurück. Der aufsässige Angus (Dominic Sessa) kann mit der vom Professor verordneten feiertäglichen Work-Life-Balance wenig anfangen, während die Köchin Mary (Da‘Vine Joy Randolph) um ihren in Vietnam gefallenen Sohn trauert. Es sind die gelungensten Momente dieses Films, wenn sich das unfreiwillig vereinte Trio mühsam zusammenrauft. Denn wie sich zeigt, funktioniert das Miteinander am besten, wenn man sich nicht verstellt, sondern die eigenen Schwächen eingesteht und jene der anderen akzeptiert.

Kleiner großer Mann

Ein lakonischer Tonfall bestimmt diesen Film, mit der nötigen Distanz zu den Figuren und zum Geschehen, ohne jedoch dabei in die Satire zu kippen. Denn Payne steht in jedem Augenblick hinter den von ihm geschriebenen Charakteren, allen voran Paul Hunham. Dass Paul Giamatti, völlig zu Recht, mit einem Golden Globe in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller/Komödie“ ausgezeichnet, die Rolle des verbitterten, aber in Wahrheit sanftmütigen Lehrers übernommen hat, ist jedenfalls ein Glücksfall. 
Am Ende dieses hinreißenden Films geht es unerlaubterweise nach Boston. In den ersten Tagen des neuen Jahres besucht man ein Museum. Sieht mit „Little Big Man“ einen revisionistischen Western im Kino. Payne inszeniert diese Szenen der Großstadt in der Ästhetik des New Hollywood, einer hoffnungsvollen Zeit des US-Kinos, die wie die frühen Siebzigerjahre einen Aufbruch zu neuen Ufern versprach. Auch Hunham und Angus brechen am Ende auf. Am letzten Tag der gemeinsam verbrachten Zeit weiß man vielleicht nicht, wie es weitergeht. Aber man weiß, was man hinter sich gelassen hat. 

ab 23.1., GUK Kino, Feldkirch
ab 25.1., Cineplex, Hohenems

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