Neu in den Kinos: „Poor Things“ Michael Pekler · Jän 2024 · Film

Yorgos Lanthimos‘ schwarzhumorige Komödie mit Emma Stone möchte die Emanzipationsgeschichte einer Frau erzählen, in deren Kopf sich ein Babygehirn befindet. Tatsächlich ist die Kinoadaption des gleichnamigen Schauerromans vielmehr eine grellbunte Frankenstein-Variation in bizarrer Steampunk-Ästhetik.

Seltsam komisch waren die Filme von Yorgos Lanthimos schon immer. Nicht dass man sich köstlich amüsieren hätte können über den armen Narren in „The Lobster“, der sich in einem exklusiven Hotel rechtzeitig paaren muss, um nicht in ein Tier verwandelt zu werden. Ebenso wenig amüsant waren zuletzt die erotischen Intrigen rund um die kranke Königin mit ihren siebzehn Kaninchen in „The Favourite“. Und doch waren die Arbeiten des griechischen Starregisseurs schon immer von einem speziellen Humor bestimmt: spöttisch im Ton, mitunter nahe an der Burleske, bissig in ihrer Gesellschaftskritik. Doch noch nie war der Tonfall so übertrieben komisch wie in „Poor Things“.
Die Erzählung präsentiert sich gleichermaßen so ungewöhnlich und vertraut, dass sie vom ersten Kapitel an – tatsächlich gliedert Lanthimos seine Geschichte in einzelne Episoden – wie ein seit Jahrhunderten bekanntes Märchen wirkt. Allerdings wie ein verstörendes und zugleich belustigendes für Erwachsene. „Poor Things“ basiert auf dem gleichnamigen Roman des schottischen Schriftstellers Alasdair Gray und gilt als moderne Frankenstein-Variation. Denn der Mythos vom modernen Prometheus – bekanntlich auch der Untertitel von Mary Shelleys Schauerroman –, der für seinen menschlichen Übermut bestraft wird, ist eine Warnung an alle, die Gott spielen möchten – wie der Arzt und Chirurg Godwin Baxter (Willem Dafoe). 
Dem an einer Londoner Universität lehrenden Wissenschaftler sind die Traumata der Kindheit ins vernarbte Gesicht geschrieben. Weil sein Vater ihm so manches Organ entnommen hat, steigen ihm beim Essen riesige Blasen aus dem Mund. Das wülstige Flickwerk von einem Antlitz hat ihn zum Einzelgänger werden lassen. Baxter ist Frankenstein und Monster zugleich, ein sanftmütiger Außenseiter, dessen experimentelle Ergebnisse aus seinem privaten Operationssaal im eigenen Haus herumlaufen: Ziegen mit Entenschnäbeln, Hühner mit Hundegesicht – und Ziehtochter Bella.

Gottvaters Geschick

Wie ein Storch stakst Emma Stone mit dicken Augenbrauen und langem schwarzen Haar durch die Gänge, plappert wie ein Kleinkind und trägt Rüschenkleider wie eine Puppe. Welcher Art chirurgischer Geburt Bella ihr Dasein verdankt, enthüllt der Film zwar erst im Laufe der Erzählung, doch verdankt sie dem Geschick ihres Gottvaters ihr Leben. Im Kopf der von Baxter aus der Themse gefischten, wiederbelebten Toten – so viel darf und muss verraten werden – befindet sich das Gehirn ihres eigenen ungeborenen Kindes.
Weil „Poor Things“ auch als parodistische Gothic Novel verstanden werden will, sieht es im herrschaftlichem Anwesen von Baxter so aus, als sei die viktorianische Zeit unter dem schweren Brokat zum Erliegen gekommen. Würde der Hausherr nicht eines Tages einen Assistenten namens Max (Ramy Youssef) einstellen, der Bellas motorische und kognitive Entwicklung aufzeichnen soll. Und der sich, man ahnt es, in dieses faszinierende Wesen mit kindlichen Wutanfällen und verspätetem Toilettengang, das gerne Frösche tötet und am Frühstückstisch mithilfe eines Apfels die Fähigkeit zum Orgasmus entdeckt, verliebt. Doch nicht nur Max, sondern auch der zwielichtige Anwalt Duncan (Mark Ruffalo), der die unter strengen Auflagen gestattete Eheschließung zwischen Bella und Max beglaubigen soll, verfällt dem Frauenkörper. Es bedarf jedenfalls keiner großen Überredungskunst des graumelierten Verführers, damit die ihre Sexualität entdeckende und auslebende Bella mit ihm durchbrennt.
Es ist eine fantastische Reise durch ein phantasmagorisches Europa, bei der Duncan, von der zusehends selbstbewussten Bella missachtet, als narzisstischer Verlierer auf der Strecke bleibt. Die futurische Steampunk-Ästhetik der Zahnräder, Dampfmaschinen und Flugschiffe beherrscht diese Entwicklungsgeschichte, vom irischen Kameramann Robbie Ryan in schrillen und bunten Bildern festgehalten. Alles brodelt hier unter der Oberfläche und sucht nach einem Ventil, vor allem aber Bellas Begierde.

Perfektes Kunststück

Bei seiner Uraufführung beim Festival von Venedig, wo Lanthimos den Goldenen Löwen entgegennehmen durfte, wurde „Poor Things“ wiederholt als feministisches Emanzipationsdrama gepriesen – eine Interpretation, die sich bei genauerer Betrachtung allerdings als verkürzt erweist. Denn selbstverständlich kann man Bellas Entwicklung vom bereits körperlich erwachsenen Puppenkind zur selbstbestimmten und über ihren eigenen Körper bestimmenden Frau – inklusive freiwilligem Aufenthalt im Pariser Bordell – als emanzipatorischen Befreiungsschlag deuten. Was man dabei allerdings nicht übersehen sollte, ist der Umstand, dass hier kein Mädchen heranwächst, sondern eine bereits erwachsene Frau als Ergebnis eines männlichen Experiments. Ihr ausschließlich sexuelles Begehren (oder „furiously jumping“, wie sie es nennt) mag zwar die feine Gesellschaft in den Ballsälen verstören oder selbstmitleidige Liebhaber wie Duncan in den Abgrund reißen, erschöpft sich jedoch in reiner Funktionalität: Bella kennt keine Selbstreflexion, deshalb keine Unsicherheit, kein Zögern. Sie entblößt sich und andere und hält der Welt einen Spiegel vor, doch durchblickt selbst nicht die Ursachen. Sie verschenkt Duncans Geld und verwechselt das mit sozialer Gerechtigkeit. Sie sagt, was sie denkt, und sie denkt, was sie sagt. Wie auch „Poor Things“ keine Fragen zulässt und keine Zweifel, sondern sich als perfektes Kunststück präsentiert. Wie Bella Baxter. 

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