Quand vient l'automne - Wenn der Herbst naht (Foto: Filmcoopi Zürich)
Michael Pekler · 05. Nov 2025 · Film

Neu in den Kinos: „In die Sonne schauen“

In ihrem preisgekrönten Cannes-Erfolg erzählt Mascha Schilinski von vier Mädchen, die im Laufe eines Jahrhunderts auf demselben Bauernhof in Ostdeutschland leben. Die Schatten und Traumata der Vergangenheit wird man nicht los, behauptet dieser malerisch dichte Film mit unzähligen Andeutungen. Ein Film über deutsche Geschichte und unsichtbare Geister.

Schon lange hat kein deutscher Film so viele Vorschusslorbeeren eingeheimst wie Mascha Schilinskis zweiter Langspielfilm „In die Sonne schauen“. Seit der Premiere in Cannes überschlagen sich die Lobeshymnen im deutschen Feuilleton, wobei man den Verdacht nicht loswird, dass hier auch eine gewisse Portion Dankbarkeit und Erleichterung mitschwingt. Endlich konnte sich auch deutscher Film wieder beim wichtigsten Filmfestival der Welt sehen lassen und wird selbstverständlich ins Oscar-Rennen geschickt. Die Erwartungen, dass dieser Film auch dem Publikum gefallen möge, sind anlässlich des Kinostarts entsprechend hoch. 

Auslassungen und Andeutungen

In gewisser Weise ist „In die Sonne schauen“ ein ausgesprochen deutscher Autorinnenfilm. Einerseits erzählt er von deutscher Geschichte und den damit verbundenen Traumata, andererseits erinnert er in gewisser Hinsicht an die viel gerühmte Tradition der Berliner Schule, bei der weniger eine spektakuläre Erzählung als ein ausgeprägter Stilwille im Vordergrund stand. Auch Schilinski verlässt sich nicht auf eine dramatische Handlung, sondern auf die Sprache der Bilder, auf Atmosphäre, Auslassungen und Andeutungen.
Schauplatz ist ein Vierseitenhof im Norden von Sachsen-Anhalt, doch das spielt – bis auf den plattdeutschen Dialekt, der in einer der Episoden zu hören ist – eigentlich keine Rolle. Denn bis auf wenige Szenen in der unmittelbaren Umgebung wird der entlegene Ort des Geschehens zweieinhalb Stunden lang nicht verlassen. 

Zurück in die Zukunft

Stattdessen entsteht mittels zahlreicher Zeitsprünge das fragmentarische Porträt von vier jungen Frauen: Alma (Hanna Heckt), Erika (Lea Drinda), Angelika (Lena Urzendowsky) und Nelly (Zoë Baier) verbringen ihre Kindheit oder Jugend auf dem Hof, während ihnen unterschiedliche Spuren aus der Vergangenheit offenbart werden. Die vier Zeitebenen werden derart zu einem Mosaik der Erinnerungen, das vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart reicht. Weniger wichtig als die Brücken, die Schilinski und ihre Co-Autorin Louise Peter über ein ganzes Jahrhundert schlagen, ist, was genau die vier erleben: Als die kleine Alma in den 1910er Jahren erfährt, dass sie nach ihrer verstorbenen Schwester benannt wurde, fürchtet sie, dass sie dasselbe Schicksal ereilt. Erika ist als junge Frau in den 1940er Jahren fasziniert von ihrem Onkel, dem in der Jugend ein Bein amputiert wurde und der die meiste Zeit im Bett liegend verbringt. In den 1980er Jahren, die Ära der DDR neigt sich ihrem Ende zu, gibt sich die junge Angelika ihrer Todessehnsucht hin, während in der Gegenwart Nelly, deren Eltern aus Berlin aufs Land geflüchtet sind, von dunklen Erinnerungen an ihre Vorgängerinnen heimgesucht wird. Denn der Tod, die Misshandlungen, die physischen und psychischen Verletzungen, die hier vor allem den Frauen zugefügt wurden, sind untrennbar mit diesem Ort verbunden. 

Vorahnungen und Heimsuchungen

„In die Sonne schauen“ ist trotz seiner sprunghaft montierten Zeitebenen ein dramaturgisch dicht gearbeiteter Film, der zugleich aber auch erratisch wirkt und vieles nur andeutet: das wiederkehrende Beobachten durch Türspalte, die Ununterscheidbarkeit von Tagtraum und Realität, Familienfotografien mit Toten. Schilinski verwebt diese Themen und Motive zu einer filmischen Geisterbeschwörung: Den Gespenstern, die generationenübergreifend die Frauen und Mädchen heimsuchen, kann niemand entkommen – sogar die Zukunft wirkt wie eine Vorahnung in die Vergangenheit zurück. Und dazwischen das Leben: Familienfeiern, Kinderstreiche, Tunnel aus Heu, der Geschmack von Schweiß und Erdbeereis. Die vielleicht wichtigste Frage, die in diesem Film gestellt wird, lautet: „Wie lange kann man glücklich spielen, ohne dass es jemand merkt?“ 

Ab 7.11., TaSKino im GUK Feldkirch, Cinema Dornbirn