Neu in den Kinos: „Emilia Pérez“ Michael Pekler · Nov 2024 · Film

Ein mexikanischer Drogenboss wird zur Wohltäterin: So eigenwillig die Geschichte des neuesten Films von Jacques Audiard klingt, so unkonventionell setzt sie der französische Autorenfilmer auch in Szene. Und wurde für sein außergewöhnliches Gangstermusical in Cannes mit dem Regiepreis belohnt.

Die mexikanische Anwältin Rita (Zoë Saldaña) macht einen fantastisch guten Job. Doch leider steht sie vor Gericht auf der falschen Seite. Ihr Mandant, für den sie eben einen Freispruch bewirkt hat, ist ein Mörder, von dessen Schuld sie überzeugt ist. Den Erfolg dafür hat wiederum ihr Chef eingeheimst. Rita möchte keine Drogenhändler und Schwerverbrecher mehr verteidigen, sondern würde sich am liebsten die Wut von der Seele singen – und tut es auch. Denn in diesem Film, einem der unkonventionellsten dieses Kinojahrs, ist genau das möglich: „Emilia Pérez“ von Jacques Audiard ist Drama, Gangsterfilm, Musical und Thriller zugleich. Weshalb sich Rita durch den Gerichtsaal tanzend lautstark nicht an die Geschworenen, sondern an uns als Kinopublikum wendet.
Einen mysteriösen Anruf später sitzt Rita mit verbundenen Augen in einem Auto. Doch die Entführung endet völlig anders als erwartet: Der mächtige Kartellboss Manitas (Karla Sofía Dascón) möchte sich nicht nur aus dem schmutzigen Geschäft zurückziehen, sondern auch in weiterer Hinsicht ein neues Leben beginnen. Allerdings nicht im Ausland, sondern in Mexiko City. Als jene Frau, die er immer schon sein wollte und immer schon war: Emilia Pérez. 

Neue Identitäten

Geld spielt keine Rolle, doch die Zeit drängt: Die Hormontherapie hat angeschlagen, was Manitas fehlt, ist jemand, der seine Ermordung vortäuscht, die Operation organisiert, seine Frau Jessi (Selena Gomez) und die Kinder wohlbehalten ins Luxusdomizil in die Schweiz bringt und fortan die geheimen Konten verwaltet. Also jemand wie Rita, die nach kurzer Bedenkzeit, aber ohne die Folgen zu bedenken, den lukrativen Job annimmt.
Das große Thema von „Emilia Pérez“ ist natürlich die Frage nach den Veränderungen, die eine neue Identität mit sich bringt. Wenn Manitas als Emilia – von der Trans-Schauspielerin Dascón fulminant gespielt – nach Mexiko zurückkehrt, ist nicht nur sie eine andere, sondern auch sonst nichts mehr, wie es war. Der totgeglaubte brutale Bandenchef mag langsam in Vergessenheit geraten, doch sein Schatten wirkt nach – nicht nur bei Rita, die als einzige Zeugin über Emilias früheres Leben Bescheid weiß: Manitas und seinesgleichen haben Hunderte sogenannte „Verschwundene“ auf dem Gewissen. Was Emilia zwar nicht wieder gutmachen kann, doch nun dafür sorgen will, dass die Familien immerhin mit Gewissheit trauern können.

Singende Seelen

Ob ein Sozialdrama die Frage, wie Emilia unter derartig bizarren Voraussetzungen überhaupt ein neues Lebenskapitel aufschlagen kann, besser beantworten könnte als ein Gangstermusical mit – von Camille und Clément Ducol komponierten – Gesangseinlagen, ist für Audiard weniger eine Frage der Perspektive als der Wahl der Mittel: Obwohl er seine Geschichte in jeder Sekunde ernst nimmt und nie in die Satire oder gar Persiflage ausweicht, erzählt er sie nicht als realistisches Biopic. „Emilia Pérez“ erinnert vielmehr an ein nicht minder grelles Pendant zum aktuellen „Joker – Folie à Deux“, wenn die Leinwand wiederholt zur Bühne wird und die Figuren sich ihre Emotionen von der Seele singen. Oder über die Risiken und Vorteile von Schönheitsoperationen wie der auserwählte Chirurg in Tel Aviv. 
Beim Festival von Cannes für „Emilia Pérez“ mit dem Regiepreis ausgezeichnet, hat sich Audiard im Laufe seiner Karriere bereits wiederholt als Wanderer durch die verschiedenen Filmgenres ausgezeichnet: Immigrantendrama („Dheepan“), Gefängnisthriller („Un prophéte“) und Western („The Sisters Brothers“) finden sich bereits auf seiner Liste. Doch „Emilia Pérez“ ist Audiards bislang mit Abstand mutigstes Projekt. Auf eine solche Erzählung – Bandenboss versucht sich nach Geschlechtsangleichung als Wohltäterin – musste man lange warten. Auf eine derartig eigenwillige Umsetzung ebenfalls.

 Ab 30.11., TaSKino im GUK Feldkirch (OmU)

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