Neu in den Kinos: „Ein ganzes Leben“ Michael Pekler · Nov 2023 · Film

Dass Robert Seethalers Bestseller für das Kino adaptiert werden würde, war eine Frage der Zeit. Die sich treu an die Vorlage haltende Verfilmung von Hans Steinbichler erweist sich auch deshalb als ein auf die Leinwand gemalter Lebensroman aus den Alpen.

Ein ganzes Leben lässt sich nur von seinem Ende aus betrachten. Das Leben des alten Andreas Egger (August Zirner) zieht kurz vor seinem Tod in rascher Bilderfolge an ihm vorbei. Kindheit, Jugend, Schmerz, Arbeit, Liebe, Krieg. Egger steigen die Tränen in die Augen. Er sitzt in einem Postbus, der ihn die Bergstraße hinauf bis zu einer Aussichtsplattform gebracht hat. Einem riesigen Betonparkplatz, wie eine Wunde ins Gebirge geschlagen. Zuhause in seiner kleinen Hütte schreibt er einen der unzähligen Briefe an seine verstorbene Frau. „Ich habe niemanden, aber ich habe alles, was ich brauche. Und wenn ich nicht so müde wäre, dann könnte ich lachen vor reinem Glück.“
Dass Robert Seethalers 2014 erschienener Bestseller „Ein ganzes Leben“, der fünfte Roman des österreichischen Schriftstellers, für das Kino adaptiert werden würde, war nur eine Frage der Zeit. Die Geschichte eines in einem kleinen Alpental aufgewachsenen Hilfsarbeiters, der dieses außer zum Kriegseinsatz an der Ostfront nie verlässt und an dem beinahe ein ganzes Jahrhundert vorüberzieht, birgt bereits jene erzählerische Kraft, die nach einprägsamen Bildern auf der Leinwand förmlich verlangt. Und genauso sieht die Adaptierung von Regisseur Hans Steinbichler nun aus: ein auf die Leinwand gemalter epischer Lebensroman.

Aus den Händen gerissen

„Was soll ich mit dem Kerl?“ Der Bauer Kranzstocker (Andreas Lust), der den achtjährigen Buben (Ivan Gustafik) seiner verstorbenen Schwägerin bei sich aufnimmt, tut dies nicht aus Nächstenliebe. Da kann er noch so oft aus der Bibel zitieren, was zählt, ist der Geldbeutel, den Andreas um den Hals trägt. Beim Essen muss Andreas in der Ecke sitzen, den Stock bekommt er bei jeder Gelegenheit zu spüren. „Das wächst sich aus. Wie alles im Leben“, sagt die Ahnl (Marianne Sägebrecht), die einzige gute Seele, zu dem Kind, als ihm der Bauer beim Verprügeln das Bein gebrochen hat. Das Hinkebein bleibt dem erwachsenen Andreas (Stefan Gorski) erhalten. Es wird sich, wie so vieles im Leben, nicht auswachsen.
Eben davon erzählt „Ein ganzes Leben“ in seinem Kern: von dem, was bleibt, und von dem, was verschwindet. Welche Spuren ein Leben hinterlässt und welche es tilgt. Egger, typischerweise nur mit Nachnamen gerufen, wird Hilfsarbeiter, verdingt sich als Tagelöhner im Holz für ein paar Groschen, die er eisern spart. Eine Almhütte in steiler Lage wird sein Zuhause, die Aushilfskellnerin Marie (Julia Franz Richter) sein Glück. In einem seiner letzten Briefe wird er schreiben: „Vieles war unerreichbar oder ist mir, kaum dass ich es hatte, aus den Händen gerissen worden.“

Totenglocken und Touristen

Der Erfolg von Seethalers Roman liegt auch darin, dass man ein solches Leben wie Egger in gewisser Weise gerne leben würde, aber es nicht leben muss. Steinbichler weiß das sehr gut, weshalb er keinen sozialrealistischen Film aus dem Stoff gemacht hat, in dem Armut und Elend an der Tagesordnung stehen. „Ein ganzes Leben“ zeichnet vielmehr sogar die Härte des einfachen Lebens, das Egger nie in Frage stellt, in überaus stilvollen Bildern. Gewaltig türmen sich die Wolken über den Gipfeln, golden leuchtet das Heu, feierlich werden die Toten der Reihe nach in die Erde gelassen. Steinbichler bleibt seiner ästhetischen Inszenierung selbst dann treu, wenn das Schicksal – oder, wie viele im Tal glauben, Gott – unbarmherzig zuschlägt. Oder der Kranzstocker. 
„Ein ganzes Leben“ ist ein Film über die großen Themen. Über die Liebe und den Tod. Mit dem Tod hat sich Egger bald abgefunden, über seine einzige Liebe kommt er nie hinweg. Da kann ins Tal kommen, wer oder was will – Monarchisten, Nazis, Kapitalisten, Touristen und sogar noch eine Schullehrerin: dem Kreislauf seines Lebens gegenüber bleibt Egger staunender Beobachter. Ein ganzes Leben lang.

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