Neu in den Kinos: „Das Verschwinden des Josef Mengele“ Michael Pekler · Okt 2025 · Film

Kirill Serebrennikov hat den Tatsachenroman von Olivier Guez über die Fluchtjahre des „Todesengels von Auschwitz“ in Südamerika verfilmt. Der russische Theater- und Filmregisseur setzt dabei auf möglichst große Distanz, während ein fulminanter August Diehl die Bestie in Menschengestalt mit Paranoia und Hass erfüllt.

Im Februar 1979 kam es im brasilianischen Bertioga zu einem Badeunfall. Ein alter Mann ertrank im Meer, nachdem ihm kurz zuvor am Strand schwindlig geworden war. „Und dann stirbt er, einfach so“, heißt es im Tatsachenroman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Olivier Guez, in dem der französische Autor dessen südamerikanische Fluchtgeschichte nacherzählt. „Von einer dunklen Kraft angezogen, taucht er allein, mit gesenktem Kopf, in das türkisfarbene Wasser.“ In der gleichnamigen Verfilmung von Kirill Serebrennikov sieht man den „Todesengel von Auschwitz“ aus gottgleicher Perspektive sterben. Aus weiter Ferne in Schwarzweiß.

Eisige Kälte

Der russische Theater- und Filmregisseur hat sich nämlich für eine radikale Distanzierung entschieden. Nicht nur von Mengele, dessen Leben in verschiedenen Verstecken er bruchstückhaft zusammenfasst, sondern auch vom oft blumigen Stil der Vorlage. Die Ästhetik macht den Unterschied: Wenn „Don Pedro“, wie sich Mengele zuletzt in seinem „Drecksloch“ in São Paulo nannte, leblos im Wasser treibt, schlagen also keine „Möwen freudekreischend mit den Flügeln“. Sondern über dem Bild liegt trotz der Hitze eine eisige Kälte. Denn Serebrennikovs kühle Inszenierung, die klinisch sauberen Bilder von Kameramann Vladislav Opelyants und August Diehls fulminante Darstellung des Nazimörders haben bis zu diesem Zeitpunkt bereits ganze Arbeit geleistet, um nicht das leiseste Verständnis für einen Mann aufkommen zu lassen, für den es kein solches gibt. Womit sich dieser Film auch klar vom fiktionalen Mengele-Film „Nichts als die Wahrheit“ (1999) abgrenzt, in dem sich Götz George als heimgekehrter Nazimörder in Deutschland vor Gericht verteidigt. August Diehl verleiht der Bestie eine Menschengestalt, die von Paranoia und Hass erfüllt altert. Und irgendwann stirbt.

Knochen und Kittel

Mengele kam 1949 über eine sogenannte „Rattenlinie“ – eine von mehreren Fluchtrouten für NS-Funktionäre und SS-Angehörige – nach Buenos Aires. Bei Guez, Drehbuchautor des NS-Justizkrimis „Der Staat gegen Fritz Bauer“, liest sich bereits die Ankunft wie ein Thriller: Der argentinische Zöllner lässt den Hafenarzt rufen, weil ihm die Blutproben und Injektionsspritzen in Megeles Aktenkoffer seltsam vorkommen. Doch „Helmut Gregor“, wie sich Mengele nennt, hat wieder einmal Glück. Serebrennikov beginnt seinen Film hingegen in der Gegenwart an einer medizinischen Fakultät: Man dürfe Mengeles Schädel ruhig anfassen, so der Professor zu den Studierenden. Eine richtige Detektivgeschichte sei die Identifizierung der exhumierten Überreste gewesen. Die angehenden Ärzte in weißen Kitteln betrachten die Knochen des SS-Arztes. Über einen Scherz auf Kosten dunkelhäutiger Zwillinge im Saal wird verhalten gelacht. Als Lagerarzt in Auschwitz herrschte Mengele über Hunderte von Zwillingspaaren, überwiegend Kinder, an denen er seine grausamen Experimente durchführte. 

Kein Haftbefehl

Die Verbindungen Mengeles nach Deutschland verfolgen ihn wie ein Schatten, den er bitter nötig hat und zugleich loswerden möchte. Erwünscht ist jedenfalls der Kontakt zur als Geldquelle dienenden reichen Unternehmerfamilie im bayerischen Günzburg. Von „zurückhaltenden Akteuren im Dienst eines unwilligen Staates“ schreibt David Marwell, Historiker und ehemaliger Präsident des Museum of Jewish Heritage, in seiner Mengele-Biografie. „Im Nachhinein ist leicht zu sehen, dass schon eine bescheidene Anstrengung ausgereicht hätte, um Mengeles andauernde Beziehung zu Personen in der Bundesrepublik aufzudecken.“
Bei Serebrennikov ist Mengele bei seinem Besuch 1956 – es liegt kein deutscher Haftbefehl gegen ihn vor – gar überzeugt, dass sich das Blatt wieder wenden wird. „Ganz tief drin, da wollen die Deutschen doch den Nationalsozialismus. Das ändert sich doch nicht von heute auf morgen.“ Zuvor hat er das Bild seiner Ehefrau, die sich von ihm hat scheiden lassen, verbrannt. Die Hochzeit mit seiner verwitweten Schwägerin, die er auf Wunsch seines patriarchalen Vaters (Burghart Klaußner) nach Südamerika nachholt, nimmt Serebrennikov zum Anlass, um geflüchtete Nazigrößen in einer argentinischen Villa zu versammeln: Am Ende mehrerer langer Kamerafahrten, vorbei an prahlenden Mördern, blüht demonstrativ ein Hakenkreuz im Blumenbeet.

Dirigent des Horrors

Jonathan Glazer, Regisseur von „The Zone of Interest“ (2023), jenem viel diskutierten Film über das selige Leben von Hedwig Höß hinter den Gartenmauern von Auschwitz, meinte, dass „wir uns fürchten, in den Tätern ganz normale Menschen zu sehen“. Das mag angesichts des im Film dargestellten Familienlebens des 1947 erhängten Lagerkommandanten zutreffen, bei Serebrennikov besteht diese Gefahr keine Sekunde. Mengele ist hier kein „ganz normaler“ Mensch. Dem Vorwurf des „Holokitsch“, dem sich Glazer ausgesetzt sah – und der eher eine Serie wie „Der Tätowierer von Auschwitz“ (2024) mit Harvey Keitel belastet –, entgeht Serebrennikow souverän: In der einzigen längeren Farbsequenz, einem inszenierten Amateurfilm eines SS-Offiziers, sieht man Mengeles „Arbeitsalltag“ in Auschwitz. Musikalisch begleitet von einer aus Kleinwüchsigen bestehenden Kapelle orchestriert er mit einem Geigenbogen den Horror an der Rampe. Dirigiert Untersuchungen, Vermessungen, Tötungen. „Ich habe ganz viele Menschen gerettet, indem ich entschieden habe, wer für die Arbeit taugt und wer nicht“, brüllt er seinem Sohn Rolf bei dessen verbürgtem Besuch 1977 ins Gesicht. Keine Einsicht, keine Versöhnung. Ein gemeinsames Foto markiert den endgültigen Abschied.
Doch es gibt noch eine zweite farbige Szene. Ein fiebriger Albtraum am Strand, kurz vor dem Tod. „Der Bucklige und der Lahme, die er in Auschwitz hat sezieren und kochen lassen“, wie Guez schreibt, nehmen am Ende des Films seine Verfolgung auf. Es sind ein Vater und sein Sohn. Sie sind die Einzigen, die Mengele zur Strecke bringen. 

ab 31.10., TaSKino im GUK Feldkirch und Kino Dornbirn (ursprünglich war der Filmstart für den 26.10. geplant)

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