Neu in den Kinos: „Das tiefste Blau“
Ein brasilianisches Roadmovie mit einer alten Frau als Heldin sieht man selten. Gabriel Mascaro lotet in seinem sozialkritischen und zugleich poetischen Film über eine 75-jährige Arbeiterin, die von der populistischen Regierung abgeschoben werden soll, die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit aus.
Plötzlich hängt über ihrer kleinen grünen Holzhütte eine Auszeichnung. Ein junger Mann und seine energische Kollegin haben einen goldenen Lorbeerkranz über der Eingangstüre angebracht. Sie hätte „den Quatsch nicht bestellt“, meint die 77-jährige Tereza (Denise Weinberg), doch es hilft nichts: Die Regierung hat sie, weil sie ihr armes Leben lang für das Land geschuftet hat, als „lebendes Nationalerbe“ ausgezeichnet – und entmündigt. Denn nun wird man nicht erst mit 80 Jahren, sondern bereits mit 75 in eine sogenannte Seniorenkolonie abgeschoben. Also muss Tereza nach einem letzten Arbeitstag im Alligatorenschlachthof zum letzten Mal die Gummistiefel putzen und dann ihre Koffer packen. Vorher muss sie der jungen Beamtin noch Fragen nach Krankheiten und Inkontinenz beantworten.
„Das tiefste Blau“ („O último azul“), geschrieben und inszeniert vom brasilianischen Filmemacher Gabriel Mascaro, erzählt Terezas Geschichte als wunderliches Roadmovie. Denn die Rentnerin wider Willen erweist sich als widerborstige Alte, die – das Gehaltskonto verwaltet bereits die dauergrantige Tochter – nicht abgeschoben, sondern noch was erleben will und sich deshalb auf die Reise macht. Wer sich allerdings eine handelsübliche Wohlfühlkomödie erwartet, in der auch Seniorinnen und Senioren auf der Leinwand noch Spaß haben dürfen, könnte enttäuscht werden. Denn „Das tiefste Blau“ spart nicht mit Kritik: an der Regierung des nunmehr rechtskräftig verurteilten rechtspopulistischen Ex-Präsidenten Bolsonaro, an den Umweltschäden im Amazonasgebiet, an der Gier der Geschäftemacher und Spitzel, die als „Bürgerpolizei“ dafür sorgen, dass die Alten mit vergitterten Lastenautos eingefangen in eine „Kolonie“ verfrachtet werden, aus der nie jemand zurückgekommen ist. Außerdem funktioniert die Flucht weniger gut als erwartet – wenngleich Tereza auf dem Boot, das sie flussaufwärts bringt, etwas Wichtiges lernt: Das titelgebende tiefste Blau ist das Sekret einer sehr seltenen Schnecke, mit dem man das Bewusstsein gehörig erweitern kann.
Aufbruch statt Abschiebung
Mit eindeutigen Referenzen an den fest im südamerikanischen Kino verankerten poetischen Realismus lotet Mascaro die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit aus: mit einem unglücklich verliebten Kapitän, einer wenig bibelfesten Nonne, mit roten und weißen Kampffischen, mit einer möglichen Reise in einem dystopischen Szenario. Dass das Geld auch die brasilianische Welt regiert, steht von Beginn an fest, denn die Alten werden entsorgt, damit die Jungen die landesweite Produktivität steigern können. Während Tereza, als Mündel ihrer Tochter, sich ohne Genehmigung keine Fahrkarte kaufen kann. Und ohne Glücksspiel sehr arm dastehen würde.
War Tereza, bevor ihr der Kranz über die Tür geschraubt wurde, ein glücklicher Mensch? Nein. Sie verliert weder eine sinnstiftende Arbeit noch eine intakte Beziehung. Die Wendung bringende Krise in Form der angedrohten Abschiebung bietet somit letztendlich eine neue Chance für den buchstäblichen Aufbruch. Die Kamera rahmt das mal mürrische, mal lächelnde Gesicht der alten Frau wie zum Beweis in farbgesättigten, leuchtenden Bildern. Die Figuren, denen Tereza während ihrer Reise im strömenden Regen oder bei sengender Hitze begegnet, mögen ziemlich skurril wirken. Doch zugleich sehr lebendig..
ab 25.9., TaSKino im GUK Feldkirch (OmU)