Neu in den Kinos: „Das fliegende Klassenzimmer“ Michael Pekler · Okt 2023 · Film

Als das Bildungssystem noch nicht überfordert und Eltern nicht verzweifelt waren, ein Internat nicht ausgesehen hat wie Hogwarts und ein Superpädagoge noch (fast) alles richtig gemacht hat: Der Jugendbuchklassiker von Erich Kästner, ein Plädoyer für Freundschaft und Zusammenhalt, erlebt seine vierte Verfilmung. Notendurchschnitt: sympathisch.

„Kinder wie die Zeit vergeht!“ Dass der deutsche Lyriker Rudolf Alexander Schröder, dem dieser weise Spruch zugeschrieben wird, die Erstverfilmung von Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ im Jahr 1954, wenige Jahre vor seinem Tod, noch im Kino gesehen hat, ist nicht anzunehmen. In jedem Fall hätte sich der protestantische Lieddichter darüber gefreut, wie das bundesdeutsche Nachkriegskino eine Buchvorlage aus der Weimarer Republik adaptiert: Denn so schnell sich politische Herrschaften innerhalb weniger Jahre auch ändern mögen – von der Monarchie über die Demokratie zur Diktatur und wieder zurück –, regieren nicht nur, aber vor allem für Kinder zeitlose Probleme. Da mag die Zeit für die Erwachsenen so schnell vergehen wie sie will. 
Kästners im Jahr 1933 veröffentlichter Kinderbuchklassiker wurde seither mehrmals verfilmt, für die erste Adaption durch Kurt Hoffmann schrieb Kästner nicht nur das Drehbuch, sondern taucht sogar in einer Nebenrolle auf und fungiert als Erzähler. Die Nazis hatten eine Verfilmung des pazifistischen Jugendromans des Antimilitaristen, der seine eigenen Bücher hatte verbrennen sehen, glücklicherweise für unangemessen gehalten. 
Dass die aktuelle Neuverfilmung sich deutlich von der Adaptierung von 1973 (mit Joachim Fuchsberger) und jener von 2003 (mit Ulrich Noethen) unterscheidet, ist bereits nach wenigen Minuten zu erkennen: Statt dem ins Bubeninternat verfrachteten Martin muss sich nun Martina (Leni Deschner), die mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einer Berlin Hochhaussiedlung lebt, große Sorgen machen. Kaum ist sie dank ihres Stipendiums im Bergdorf Kirchdorf angekommen, wird sie bereits in die Streitereien ihrer gemischten Schulklasse – eine reine Bubenklasse gibt es dankenswerterweise nicht einmal mehr im idyllischen Südtirol – hineingezogen. Das Problem stellen jedoch nicht die Mädchen und die Burschen dar, sondern, soweit von Kästner überliefert, die „Internen“ und die „Externen“: Seit Jahrzehnten tobt traditionell der Kampf zwischen den Stadtkindern im Internat und jenen aus dem ländlichen Ort, die sich tagsüber die Schulbänke teilen müssen. Vermittlungsversuche durch den verständnisvollen Superpädagogen und Internatsleiter Bökh (Tom Schilling) und der ein wenig überforderten Schuldirektorin Kreuzkram (Hannah Herzsprung) scheitern selbstverständlich regelmäßig.

Südtiroler Schmuckkästchen

Nachdem zu Beginn die Stereotypen präsentiert wurden – die taffe Latzhosen-Freundin, das bissige Dorf-Miststück, der gutmütige Donut-Dicke und der gehänselte Schlaumeier-Kleine –, gewinnt der von der schwedischen Regisseurin Carolina Hellsgård (die vor einigen Jahren mit dem Sozialdrama „Wanja“ ein beachtliches Debüt hinlegte) inszenierte Film merklich an Substanz. Natürlich wirkt das Internat wie ein aus der Vergangenheit geholtes Schmuckkästchen und vermitteln Setting und Dialoge den Eindruck „Marke deutscher Kinderfilm“. Doch zugleich erkennt man das Bemühen um eine zeitgenössische Neudeutung, ohne sich von den zeitlosen Grundideen – Freundschaft, Solidarität und Empathie – zu entfernen: Da sind Ängste, Sorgen und Leistungsdruck. Da gibt es unfreiwilligen Rückzug und bewussten Ausschluss. Missachtung und den Wunsch nach Anerkennung. Erwachsene, denen das in ihrer Welt nicht bekannt vorkommt, müssen jetzt zum Nachdenken eine Stunde nachsitzen. Denn grobe Fehler und Unsicherheit gibt es nicht nur im „Fliegenden Klassenzimmer“ auch seitens jener, die angeblich immer alles richtig machen. 
Dass der liebe Herr Bökh und sein ehemaliger Freund, der im Eisenbahnwaggon lebende „Nichtraucher“, auch einiges aus alten Tagen zu klären haben, versteht sich. Für die beiden Erwachsenen ist die Zeit nämlich ebenso schnell vergangen wie für die Kinder. Vermutlich leider sogar noch schneller.

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