Nora Gomringer zog bei der Konzertlesung in der Bludenzer Remise die Zuhörenden in ihren Bann.
Michael Pekler · 10. Jun 2025 · Film

Neu in den Kinos: „Armand – Elternabend“

Nach einem Vorfall zwischen zwei Schülern steht der Verdacht auf Missbrauch im Raum. Die Eltern werden von der Schulleitung vorgeladen. Doch es fällt schwer, die Wahrheit herauszufinden, denn die Aussagen der Beteiligten widersprechen sich – und die Eltern stehen einander näher, als man vermutet. Kammerspielartiges Psychodrama im Klassenzimmer.

„Es gibt einen Unterschied zwischen Toleranz und Verantwortungslosigkeit.“ Sarah (Ellen Dorrit Petersen) will nicht tolerant sein, sondern sieht die Schuldirektion in der Verantwortung. Sie fordert Konsequenzen. Wenige Tage vor den Sommerferien gab es einen Vorfall zwischen ihrem sechsjährigen Sohn Jon und dem gleichaltrigen Armand. Was genau geschehen ist, weiß man noch nicht, doch Jon ist mit blauen Flecken nach Hause gekommen. Eine Reinigungskraft hat den Buben halb entkleidet auf der Toilette gefunden. Es soll zu sexuellem Missbrauch durch Armand gekommen sein. Die Schulleitung muss reagieren. Als Sarah und ihr Mann Anders (Endre Hellestveit) eintreffen, ist Armands alleinerziehende Mutter Elisabeth (Renate Reinsve), eine Schauspielerin, schon da. Elisabeth ist aufgebracht und von der Lehrerin kaum zu beruhigen. Nun sitzt sie an diesem heißen Nachmittag mit Jons Eltern in einem Klassenzimmer, um den Vorfall zu besprechen.

Wortreicher Machtkampf

Die psychologische Kriegsführung beginnt bereits bei der Sitzordnung. Dass der Schuldirektor zunächst nur die unsicher wirkende Junglehrerin vorschickt, um sich der Verantwortung zu entziehen, erweist sich atmosphärisch nicht unbedingt als hilfreich. Nach einem kurzen Telefonat mit ihrem Sohn ist Elisabeth jedenfalls davon überzeugt, dass Armand unschuldig ist. Und so zeichnet sich bereits nach wenigen Minuten ab, worum es in diesem kammerspielartigen Drama gehen wird: nicht um die Klärung von Armands Schuld oder Unschuld, sondern um die Konfrontation zwischen den Erwachsenen, um den Machtkampf mit Worten, aber auch um den wortlosen mit weniger offensichtlichen Mitteln. Wie sich herausstellt, waren die beiden Mütter früher nicht nur befreundet, sondern auch verwandt. Elisabeths bei einem Autounfall ums Leben gekommener Mann war Sarahs Bruder. Gibt es bis heute unausgesprochene Vorwürfe? Hat der Tote seine Familie jahrelang schlecht behandelt oder umgekehrt unter den Allüren der Selbstdarstellerin Elisabeth gelitten? Warum zeigt Anders auffällig viel Verständnis für Elisabeths Situation als alleinerziehende Mutter?

In eigener Sache

„Armand“, geschrieben und inszeniert vom norwegischen Filmemacher Halfdan Ullmann Tøndel – dem Enkel von Ingmar Bergman und Liv Ullmann –, der vergangenes Jahr in Cannes mit der Caméra d‘Or für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde, ist eine auf 16mm-Material gedrehte psychologische Versuchsanordnung: Während man in der Wahrheitsfindung nicht vorankommt, entwickelt sich eine unaufhaltsame Eigendynamik. Die vibrierende Atmosphäre schlägt sich auf die Nerven aller Beteiligten, wiederholt werden Pausen auf dem Flur oder der Damentoilette eingelegt, in denen man entweder versucht, Allianzen zu schmieden oder sich eiskalt anschweigt. Gerade weil kein festgelegtes Prozedere befolgt wird – eines, das für eine solche Situation ohnehin nicht existiert –, geht es sowohl Eltern als auch Schulvertretung schließlich weniger um den eigentlichen Anlass, als um die eigene Sache. Einen in seiner Bizarrheit denkwürdigen, minutenlangen Lachanfall wie den von Renate Reinsve hat man im Kino jedenfalls schon lange nicht mehr gesehen. 
Die gegen Ende des Films vermehrt eingesetzten surrealen Szenen, etwa eine Tanzeinlage von Elisabeth auf dem Flur oder eine wie modernes Ballett inszenierte Choreografie im Stiegenhaus, wirken wie Momente der Befreiung: Das kathartische Gewitter, das sich mit der Nachmittagshitze bereits abzuzeichnen schien, bricht dann dennoch überraschend über alle Beteiligten herein. 

ab 13.6., TaSKino im GUK Feldkirch (OmU)