Neu in den Kinos: „Anatomie eines Falls“ Michael Pekler · Nov 2023 · Film

Für ihr Beziehungsdrama gewann Justine Triet die Goldene Palme in Cannes. Sandra Hüller spielt die Angeklagte in einem außergewöhnlichen Justizthriller, in dem sich ein komplexes psychologisches Machtgefüge offenbart. Zweieinhalb Stunden packendes Kino.

„Wie Sie den Unfall des Sohns beschreiben. Das könnte Ihr eigenes Leben sein.“ Die Literaturstudentin ist voll der Bewunderung, als sie die bekannte Schriftstellerin in ihrem Haus in der Nähe von Grenoble besucht. Diese hat sich eben ein Glas Wein eingeschenkt, und es scheint beinahe, als ob die beiden Frauen miteinander flirten. „Kann man nur über Dinge schreiben, die man selbst erlebt hat?“, will die Interviewerin wissen. Tatsächlich hat Sandra Voyter (Sandra Hüller) wiederholt ihr eigenes Leben in ihren Romanen verarbeitet. So auch den Unfall ihres elfjährigen Sohns Daniel, der eine schwere Sehbehinderung nach sich zog. Als aus dem oberen Stockwerk des Chalets laute Musik ertönt, muss das Interview abgebrochen werden, und die Studentin ein Jahr später als Zeugin vor Gericht aussagen. Denn wenige Minuten nachdem sie gegangen war, lag Sandras Ehemann tot im Schnee. Sandra steht unter Mordanklage. 
War es Suizid? Ein Unfall? Oder eben doch Mord? Zunächst scheint alles darauf hinzuweisen, dass sich Samuel (Samuel Theis) aus dem Fenster stürzte. Doch wieso sollte sich jemand, der eben noch das Dachgeschoss renovierte, mitten in der Arbeit das Leben nehmen? Bereits mit der Obduktion, die einen „verdächtigen Todesfall“ feststellt, beginnt ein schier endloses Ermittlungsverfahren: Ursache der klaffenden Kopfverletzung, Aufprallwinkel, Blutspritzer auf dem Vordach. Als sich herausstellt, dass es kurz vor Samuels Tod einen heftigen Streit zwischen den Eheleuten gab, bei dem es auch zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam, verdichten sich die Anzeichen, dass Sandra buchstäblich ihre Hände im Spiel gehabt haben könnte. 

Mann im Schatten

Dass Justine Triet mit „Anatomie eines Falls“ („Anatomie dʼun chute“) keinen gewöhnlichen Justizkrimi vor Augen hatte, erkennt man bereits während der von emotionaler Spannung geprägten Ouvertüre. „Du musst dich so wahrnehmen, wie die anderen dich wahrnehmen. Bei einem Prozess geht es nicht um die Wahrheit“, rät später der mit Sandra befreundete Anwalt Vincent (Swann Arlaud), der ihre Verteidigung übernimmt. Denn im öffentlich ausgebreiteten Gerichtsprozess rückt zunehmend Sandras Eheleben in den Vordergrund, werden intime Details nicht ausgespart. Ein komplexes psychologisches Machtgefüge, in dem der Mann im Schatten der erfolgreichen Frau stand, tut sich auf. Und dass Sandra ihre fiktiven Erzählungen bislang auf Fundamenten der Realität errichtet hat, erweist sich nicht unbedingt zu ihrem Vorteil. 
Szenen im Gerichtssaal wechseln sich ab mit solchen zuhause, wo Daniel, um als Hauptzeuge nicht von der Mutter beeinflusst zu werden, mit einer vom Gericht ihm zugewiesenen Beobachterin konfrontiert ist – und sein Vertrauen in die Unschuld der Mutter zu bröckeln beginnt. Dass die Blindheit des einzigen Zeugen die Unklarheit über den Tathergang versinnbildlicht, mag man als manieriert erachten; doch Triet verlässt sich nicht auf oberflächliche Symbolik. Die Frage, was jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt gesehen, gehört oder – wie sich herausstellt – gar aufgezeichnet hat, betrifft nämlich alle Beteiligten. Aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Motiven.

Suche nach Schuld

Im Mittelpunkt des Films, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, steht im Laufe der Zeit jedenfalls nicht mehr die Klärung eines etwaigen Verbrechens, sondern eine vergiftete Beziehung – ohne eindeutigen Schuldspruch. Die deutsche Schriftstellerin und der französische Lehrer, der sich von der starken Partnerin übergangen fühlt, haben sich zwar auf einen Mittelweg geeinigt – etwa auf Englisch als „Amtssprache“ für zuhause –, sich jedoch in einem Netz der Vorwürfe, Beschuldigungen und Verdächtigungen, die aber mehr mit sich selbst zu tun haben als mit der Persönlichkeit des anderen, verfangen: Darf ich Zugeständnisse bloß deshalb machen, um mir Dankbarkeit zu erwarten? Kann ich dem anderen seine Selbstverwirklichung ermöglichen und mich dann trotzig aus dem Spiel nehmen? „Versteht man nach gründlicher Suche immer noch nicht, wie etwas passiert ist, muss man sich fragen, wieso es passiert ist“, weiß ausgerechnet Daniel im Zeugenstand. – „Die Erinnerungen sind die Folgen, nicht die Gründe“, erklärt wiederum der Staatsanwalt.
Eben weil Justine Triet sich auf wenige Rückblenden auf das Eheleben beschränkt, wirken diese Szenen umso eindringlicher. Vor allem aber ist diese Intensität der mitreißenden Darstellung Sandra Hüllers geschuldet. Vor einem französischen Gericht in der Sprache des toten Ehemanns sprechend, bleibt diese Frau bis zuletzt eine ambivalente Figur: Unnahbar und bestimmt, freundlich und zärtlich, fassungslos und aufgelöst. Doch immer wenn man meint, endlich die Wahrheit erkannt zu haben, handelt es sich vielleicht doch um eine Lüge. Oder um beides.

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