Neu in den Kinos: „All of Us Strangers“ Michael Pekler · Feb 2024 · Film

Andrew Haighs mysteriöses Liebesdrama ist eine Erzählung über die Vergangenheit als illusorische Zeitkapsel, den Schmerz der Gegenwart und die Unmöglichkeit des Loslassens. Ein in jeder Hinsicht wunderbarer Film.

Es gibt Filme, deren Wucht sich erst im Nachhinein entfaltet. Die über ihr Ende hinaus wirken, weil sie von Dingen erzählen, die nicht sofort zu entschlüsseln sind und deren Bedeutung einem erst langsam bewusst wird. Die Rede ist nicht von einem Rätsel, das die Erzählung zunächst aufgeworfen und später ohnehin ohne unser Zutun gelöst hat, sondern von einer Rätselhaftigkeit, auf die es keine schnellen Antworten gibt. „All of Us Strangers“ ist ein solcher Film.
Wollte man an dieser Stelle anmerken, wovon dieser Film eigentlich erzählt, müsste man wohl zuerst erwähnen, dass Adam (Andrew Scott), ein Mittvierziger, allein in einem Apartment in London lebt. Wie er seinen Nachbarn Harry (Paul Mescal) kennenlernt und die beiden, nachdem Adam seine Zögerlichkeit überwindet, in einer Beziehung landen. Wie seltsam der Beginn dieses Films anmutet, wenn in dem leeren Hochhaus mitten in der Nacht jemand den Feueralarm ausgelöst hat, Adam und Harry jedoch offensichtlich die einzigen Bewohner der Anlage zu sein scheinen. 

Gegenwelten

Seltsam mutet auch jenes Bild an, das erst viel später in diesem Film auftaucht und zeigt, wie Adam seinen Eltern (Jamie Bell und Claire Foy) in einem Diner gegenübersitzt und das Familienmenü bestellt. Denn Adam, der mittelmäßige Drehbücher für das Fernsehen schreibt, gräbt in seiner Vergangenheit, hört Platten aus den Achtzigern und ist in die Londoner Vorstadt gefahren, wo er aufwuchs. Die Eltern leben noch immer im selben Haus wie damals, nur älter geworden sind sie nicht. Überhaupt ist alles unverändert. Und Adam und seine Eltern sind nun gleich alt. Als die Kellnerin das Essen serviert, weist sie auf die üppige Portion hin. Nicht weil die Eltern keinen Appetit haben. Sondern weil es sie gar nicht gibt – außer für Adam. Weil sie vor dreißig Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. „Ging es schnell?“, möchten sie vom mittlerweile erwachsenen Sohn wissen, der sie kein weiteres Mal gehen lassen will.
Es ist schier unmöglich, bei diesem Film nicht an M. Night Shyamalans Psychodrama „The Sixth Sense“ zu denken, was aber in keinster Weise stört. Denn Andrew Haigh, der auch ein hervorragender Drehbuchautor ist und sieben Jahre nach „Lean on Pete" endlich wieder einen Film gedreht hat, macht aus dieser Idee keinen Thriller mit Plot-Twist, sondern legt die Karten recht bald auf den Tisch. Das dystopisch inszenierte London, wo selbst die Schwulendisco in kaltblauem Licht erstrahlt, bildet eine akkurate Gegenwelt zur nahezu heimeligen Zeitkapsel des Elternhauses und verhindert, dass dieser Film zu einer Geistergeschichte aus der Vergangenheit wird. „All of Us Strangers“, sehr lose auf einem Roman des erst im November verstorbenen japanischen Autors Taichi Yamada basierend, ist ein – auch für Haigh sehr persönliches, im Haus der eigenen Kindheit gedrehtes – Liebesdrama, das nicht davon erzählt, ob man Tote sehen kann, sondern wie man es schafft, geliebte Menschen im eigenen Leben zu halten. Und dabei die Frage stellt, ob es nicht gerade der Schmerz ist, an dem man meint festhalten zu müssen. 

Innerer Frieden

Denn im Gegensatz zu seinen Eltern ist es Adam, der nicht loslassen kann, der dem ersten überraschenden Besuch weitere folgen lässt und in dessen Wahrnehmung die Grenze zwischen Leben und Tod nicht mehr existiert. Die Eltern hören ihm zu, interessieren sich für seine Arbeit und den Freund, auch wenn die Mutter von Adams Outing irritiert ist. Als ob sich ein innerer Frieden ausbreiten würde. Als ob die Homophobie seiner Kindheit, die Angst vor dem Schwulsein und dem Erwachsenwerden, die noch Jahrzehnte später nachwirken, plötzlich einer großen Liebe weichen könnten. „I‘ll protect you from the hooded claw“, meint Adam zu Harry am Ende dieses Films, der eine weitere unglaubliche Wendung bereithält. „Keep the vampires from your door.“ Dann schmettern Frankie Goes To Hollywood ihr „The Power of Love“, um die geschundene Seele zu reinigen. Purge the soul. Ein in jeder Hinsicht wunderbarer Film.

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