Neu in den Kinos: „Å Øve – Üben, Üben, Üben“ Michael Pekler · Sep 2024 · Film

Eine junge Frau reist 1.500 Kilometer von den Lofoten nach Oslo, um im berühmten Opernhaus vorzuspielen. Denn die Klimaaktivistin will ihren ökologischen Prinzipien treu bleiben. Während Trine alles daransetzt, die Hauptstadt mit ihrer Trompete rechtzeitig zu erreichen, ist in diesem Film ausnahmsweise tatsächlich der Weg das Ziel.

Es ist bereits später Abend und die junge Frau hat noch immer keine Mitfahrgelegenheit gefunden. Verloren steht sie an der Tankstelle und blickt suchend um sich. Doch plötzlich scheint sie Glück zu haben, ein Mann spricht sie an: Er würde sie gerne mitnehmen, erklärt er der Anhalterin. Allerdings könne er das nicht. Nicht weil er in die andere Richtung unterwegs sei, sondern weil er hier wohne. Tatsächlich können die einfachsten Wahrheiten manchmal die schlimmsten sein.
In einem der Publikumsgespräche, die Laurens Pérol mit seinem Langfilmdebüt auf diversen Festivals absolviert hat, berichtete der Regisseur unter anderem von dieser Szene. Irgendwo in Norwegen sei er mit der kleinen Filmcrew im Laufe der zwölf Drehtage unterwegs gewesen, als ein Einheimischer unbedingt im Film habe mitspielen wollen. Das Ergebnis Pérols spontaner Zusage ist nun im Film die Absage an seine Heldin. Und eine improvisierte Szene, die sich dennoch – oder gerade deshalb – nahtlos einfügt. Denn in „Å Øve – Üben, Üben, Üben“ geht es zuvorderst um Authentizität.
Pérol erzählt zwar eine fiktive Geschichte, wählt dafür aber einen dokumentarischen Stil, der das Anliegen seiner Protagonistin unterstreichen soll: Die Musikerin Trine (Kornelia Melsæter) ist Klimaaktivistin mit beschränkten Möglichkeiten, denn sie lebt auf einer Insel im hohen Norden. Doch weil sie beschlossen hat, wenigstens ihr Möglichstes zu tun, ist sie nun per Anhalter allein durch Norwegen unterwegs, um 1.500 Kilometer von den Lofoten nach Oslo zurückzulegen. 
Die junge Frau mit der Trompete soll nämlich in wenigen Tagen zum Vorspielen ins berühmte Opernhaus. Noch dazu vor der nicht weniger berühmten klassischen Meisterin Tine Thing Helseth. Womöglich hat Trine davon immer schon geträumt, tatsächlich wird sie von der Einladung zu Beginn des Films überrascht: Ihre Mutter habe sie heimlich angemeldet, in drei Tagen ginge der Flug. Doch für Trine ist das ein No-Go, Fliegen kann sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren. Und das Bahnticket wäre doppelt so teuer und mit einer umweltschädlichen Diesellokomotive verbunden. Bleibt nur der Daumen.

Körperhaltung und Konzentration

Pérol komprimiert die mehrtägige Reise auf ein schlankes, knapp 80-minütiges Roadmovie, das einerseits wie ein klassischer Genrefilm funktioniert, andererseits von pointiertem Stilwillen geprägt ist. Noch bevor sich Trine auf den weiten Weg macht, wird bereits deutlich, dass hier das scheinbar Nebensächliche in den Vordergrund gerückt und das Augenmerk auf jene Dinge gerichtet wird, die am Straßenrand gemeinhin übersehen werden. Obwohl Trine alles daransetzt, Oslo rechtzeitig zu erreichen, ist in „Å Øve“ ausnahmsweise tatsächlich der Weg das Ziel.
Ersichtlich wird dies bereits zu Beginn in der letzten Unterrichtsstunde bei Trines strenger Lehrerin, deren Stimme nur aus dem Off zu hören ist und die ihrer Schülerin noch einmal erklärt, worauf es beim täglichen Üben ankommt: Körperhaltung, Atmung, Konzentration. Erst an das Ende der Liste schreibt Trine in ihr kleines Übungsheft, was bei anderen Kinoheldinnen an erster Stelle steht: Träumen. An den Erfolg zu glauben, ist nicht Voraussetzung für einen solchen, harte Arbeit und ständiges Training hingegen sind es unbedingt.
So ergeben sich nahezu absurde Momente, wenn Trine mindestens jeden Abend, manchmal aber auch tagsüber mitten in der Landschaft die Trompete auspackt. Wenn der Wind die Notenblätter davon weht, die klammen Finger das Instrument kaum halten wollen oder im Kuhstall ein eigenwilliges Auditorium die Ohren spitzt. Stärker als seine klimapolitische Botschaft, die er mitunter sogar überdeutlich formuliert – etwa wenn Trine riesige Bagger beim Kohleabbau beobachten muss oder im Autoradio wiederholt vom „Klimaprozess“ vor dem norwegischen Höchstgericht berichtet wird –, rückt Pérol die Unwägbarkeiten der Reise in den Vordergrund. Ein gesichtslos bleibender Autofahrer führt Trine in einen unheimlichen Schlafplatz in seinem unterirdischen Trainingsraum, in einer eiskalten Kirche kann man mit Mütze und Fäustlingen immer noch besser die Nacht überstehen als in einem verlassenen Wartehäuschen. Und falls man bei einer freundlichen Familie Unterschlupf findet, kann man statt des zu übenden Astor Piazzolla auch Brahms‘ „Wiegenlied“ spielen. 

Stimmübungen mit Publikum

„Was uns rettet, ist die Gabe, unsere Träume im Alltag zu finden“, meinte die französische Filmemacherin Agnès Varda über ihren feministischen Protestfilm „L‘une chante l‘autre pas“. Die Träume der Männer würden bloß das Alltägliche übersteigen, weshalb sie stets darüber stolperten. „Å Øve“ erzählt von einem solchen Traum, der das Alltägliche eben nicht übersteigt, sondern im Alltag nicht nur auf sichtbaren, sondern auch auf hörbaren Widerstand stößt: im Brausen des Sturms, im Lärm der vorbeidonnernden Autos, im Geschrei der Möwen und im Geräusch des rollenden Koffers auf dem Asphalt. 
Laurens Pérol, der während der Arbeit am Drehbuch dieselbe Strecke wie Trine per Anhalter zurücklegte, hat sich entschlossen, zu den Premieren seines Films ebenfalls ausschließlich auf diese Weise oder per Bahn anzureisen. Das kann man als zweckmäßige oder überzeugende Promotion für den Film betrachten, anders verhält es sich mit jener kleinen Stimmübung, die der Regisseur vor Beginn mit dem Publikum ausführt. Als Therapie darf das lautstarke kollektive Experiment hinterfragt werden, in jedem Fall aber hilft es, wenig später die leisen Töne der auch akustischen Filmreise besser wahrzunehmen. 

ab 29.9., TaS Kino im GUK Feldkirch (OmU)
ab 2.10., Filmforum Bregenz (OmU)

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