Musikhauptstadt Prag
Musik aus Tschechien stand im Mittelpunkt des letzten Abonnementkonzertes mit dem Concerto Stella Matutina und dem italienischen Ausnahmefagottisten Sergio Azzolini.
Michael Löbl ·
Dez 2024 · Musik
Politiker:innen sollten es unbedingt haben, Musiker:innen auch: Charisma, Ausstrahlung, Bühnenpräsenz, die Fähigkeit, Zuhörende zu fesseln und ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ohne diese Eigenschaften wird es schwierig, sowohl in der Politik als auch im Musikleben. Es gibt Instrumente, die die Sache erleichtern, man denke an Paganini mit seiner Geige oder an den Pianisten Franz Liszt. Das Barockfagott allerdings gehört definitiv nicht dazu. Und doch…
Ja, da gibt es einen. Sergio Azzolini, der italienische Teufelsfagottist. Was er aus seinem mit vielen kranken, unsauberen Tönen gespickten Instrument hervorzaubert, ist absolut sensationell. Vor fünf Jahren war er das letzte Mal zu Gast in der Abo-Reihe des Concerto Stella Matutina, und bereits damals verzauberte er Musiker:innen und Publikum durch seine mitreißende Art und seine instrumentale Kompetenz.
Schwierige Tonerzeugung
Vergleicht man ein Barockfagott mit einem modernen Fagott, wie es heute in allen Symphonieorchestern verwendet wird, fallen sofort die fehlenden Klappen auf. Alle Töne, die man auf dem technisch weiterentwickelten Fagott angenehm „greifen“ kann, mussten die Bläser vor dreihundert Jahren vor allem durch Luftführung, Ansatz und extrem komplizierte Griffkombinationen erzeugen. Dazu kommt, dass auf den alten Instrumenten nur wenige Töne von sich aus sauber sind und sie daher vom Spieler erst in Richtung korrekte Tonhöhe gebracht werden müssen. Ein weiteres Problem ist der Klang, der jetzt per se nicht unbedingt als „mögig“ bezeichnet werden kann. Auch hier ist die Blastechnik des Spielers gefordert, um den „schnarrigen“ Grundcharakter des Barockfagottes in einen runden, gesanglichen Ton zu verwandeln.
Humorvolle Moderation
Und all das kann Sergio Azzolini. Nicht eine Sekunde lang hat man den Eindruck, dass es sich beim Barockfagott um ein problematisches Instrument handeln könnte. Alles wirkt mühelos, man hört keinerlei Intonationsprobleme, die Bandbreite von Piano zu Forte ist groß und technisch gibt es bei ihm keine Schwierigkeiten. Dieser Ausnahmemusiker singt auf seinem Instrument, jeder Ton ist artikuliert und lange Phrasen von der tiefsten bis in die höchste Lage werden ausdrucksvoll gestaltet. Sergio Azzolini, in Bozen geboren und seit über 25 Jahren Professor an der Musikhochschule Basel, hat dazu eine sehr humorvolle Moderation in fast perfektem Deutsch vorbereitet, in dem er die Komponisten des Abends und die ihre Querverbindungen zu vielen Musikmetropolen Europas unterhaltsam erläuterte. Nur hat er – zumindest im zweiten Konzert am Samstag – das erste Kapitel weggelassen und es versäumt, den Beginn der musikwissenschaftlichen Story zu erzählen.
Vorbild Vivaldi
Im Zentrum des Programmes stand neben dem Fagott vor allem das Palais des Grafen Wenzel von Morzin in Prag in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es hat alle Kriege und Konflikte der letzten Jahrhunderte gut überstanden und dient heute als Sitz der rumänischen Botschaft. Graf Morzin war ein Musikliebhaber und förderte zahlreiche Komponisten, vergab Kompositionsaufträge und verhalf der tschechischen Hauptstadt zu musikalischem Glanz, der weit über die Region hinaus erstrahlte. Er beschäftigte eine „Kapelle“, ein kleines Orchester mit ausgesuchten Musikern und verpflichtete prominente Komponisten, die das Orchester als Kapellmeister leiteten. Der bekannteste von ihnen war der Deutsche Johann Friedrich Fasch. Von Graf Morzin am meisten verehrt wurde allerdings ein Italiener: Antonio Vivaldi. Der Superstar aus Venedig erhielt zahlreiche Kompositionsaufträge und seine Musik hatte einen enormen Einfluss auf viele Prager Komponisten dieser Zeit. Die Verbindung Prag – Venedig war so intensiv, dass Vivaldi dem Grafen Wenzel von Morzin sein bekanntestes Werk widmete, die „Vier Jahreszeiten“. Der Musikhistoriker Václav Kapsa hat sich intensiv mit dem Thema dieses Adelshauses befasst und zahlreiche Kompositionen aus dem Hause Morzin wieder zum Leben erweckt. Dazu musste er das weit verstreute Notenmaterial in Sammlungen aus Dresden, Darmstadt oder Stockholm zunächst einmal finden, die alten Partituren entziffern und anschließend in spielbare Partituren verwandeln.
Eine Bereicherung des Repertoires
Die Arbeit hat sich auf jeden Fall gelohnt. Die Werke der beiden vollkommen unbekannten Komponisten Johann Anton Reichenauer und František Jiránek sind ohne Zweifel eine Bereicherung für das barocke Orchesterrepertoire. Reichenauers B-Dur-Suite erinnert verblüffend an Johann Sebastian Bachs Erste Orchestersuite in C-Dur und muss auch fast gleichzeitig entstanden sein. Beim Fagottkonzert in g-moll von František Jiránek hört man deutlich den Einfluss von Antonio Vivaldi, es ist aber von ähnlicher Qualität wie die 37 Konzerte, die der Meister aus Venedig für dieses Instrument geschrieben hat. Ein Geschenk für alle Fagottist:innen! Beide Stücke zeigen, welch großartige Musiker:innen sich in dieser Kapelle zusammengefunden haben, sowohl für Streicher als auch für Bläser sind alle Werke äußerst virtuos komponiert. Auch zwei bisher verschollene Fagottkonzerte von Vivaldis venezianischem Kollegen Benedetto Marcello hat Sergio Azzolini im Umfeld dieses Prager Orchesters wiederentdeckt, wobei für den endgültigen Beweis der Urheberschaft noch weitere Forschungen notwendig sind.
Fast unspielbar
Nichts zu tun mit all dem, also mit Vivaldi oder dem Grafen von Morzin, hat der Komponist Jan Dismas Zelenka. Zwei seiner Orchesterwerke standen im Mittelpunkt des zweiten Konzertteiles. Zelenka stammte zwar ebenfalls aus Böhmen, verbrachte aber den größten Teil seiner musikalischen Laufbahn am Hofe von Kurfürst Friedrich August II. in Dresden. Die unkonventionelle, harmonisch und rhythmisch absolut eigenständige Kompositionsweise hat seine Werke in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr bekannt gemacht. Als „Der Bizarre neben Bach“ wurde er von einem Musikjournalisten der „Zeit“ einmal bezeichnet. Sergio Azzolini kündigte Zelenkas Bläserstimmen zwar als „fast unspielbar“ an, gemeinsam mit Giovanni de Angeli an der Barockoboe bewies er aber vor allem im Concerto G-Dur das Gegenteil. Hier waren auch der Konzertmeister David Drabek und Solocellist Thomas Platzgummer solistisch gefordert. Durch seine Körpersprache beflügelte der Fagottist die Musiker:innen des Concerto Stella Matutina, er suggerierte jeden Impuls, jede Tempoveränderung – von denen es ausgesprochen viele gibt – und jede Nuance des musikalischen Ausdrucks. Gemeinsam mit Sergio Azzolini gelangen zahlreiche orchestrale Glanzpunkte und alle im Saal, ob aktiv oder passiv, folgten dem Bühnengeschehen voller Begeisterung.
www.stellamatutina.at