Musikalisches Multitasking in Perfektion
Die experimentierfreudige Berliner Musikerin und Sängerin Kid Be Kid begeisterte am Dornbirner Spielboden
Peter Füssl · Dez 2024 · Musik

Der bürgerliche Name der jungen Berlinerin lautet Sandra (Sanni) Lötzsch, aber wenn sie in ihrem silbernen Space-Anzug auf der Bühne steht, abwechslungsweise ins Mikro singt oder aus Mund, Nase und Rachenraum kantige Human-Beatbox-Rhythmen zaubert und gleichzeitig eindrucksvoll Klavier spielt und aus dem Synthesizer Bassläufe oder Klangwolken steigen lässt, dann wird klar, dass solch eine exzeptionelle Bühnenerscheinung, die sich noch dazu um keinerlei stilistische Grenzen schert, einen Nom de Guerre braucht: Kid Be Kid. Unter diesem Pseudonym legte die rührige Solo-Künstlerin bislang bei den Berliner Indie-Labels Springstoff und Fun In The Church drei Produktionen im Spannungsfeld von Jazz, Neo-Soul, Pop und Electronic vor, die in aufgeschlossenen Jazz-Kreisen durchaus für Furore sorgten und sie auf zahlreiche Festivals und Konzertbühnen in ganz Europa brachten. Nun schaffte sie es – im dritten Anlauf nach einem Lockdown- und einem krankheitsbedingten Ausfall – endlich auch auf den Dornbirner Spielboden, wo das im Rahmen der Jazz&-Reihe unkonventionelle musikalische Erfahrungen gewohnte Publikum durchaus begeistert reagierte und sich gerne auch zum Mitmachen animieren ließ.

Raffinierte Arrangements ...

Von künstlichen Nebelschwaden umweht, eröffnete Kid Be Kid das Konzert mit nahezu klassisch anmutenden Piano-Tönen, die sie – über die gesamte Tastatur wandernd – stilistisch immer mehr in impressionistische Dimensionen erweiterte. Parallel dazu verwandelte sie den anfänglichen Dauerton auf dem Synthesizer in eine zweite Sound-Ebene und veredelte schließlich ihren Tasten-Output noch mit stark verhallten, nonverbalen Vokalisen. Das Bühnenlicht nahm plötzlich klar umrissene Spotlight-Kegelformen an und markierte so optisch einen markanten musikalischen Umschwung. Denn das Stück entwickelte mit einem effektvollen Break und anschließender Einbeziehung von Beatbox-Rhythmen abrupt eine handfestere Gangart und mutierte mittels gesungenem Text zum Song. Überrascht nahm man wahr, dass es sich um das Stück „Naked Times“ vom aktuellen, zweiten Album „Truly a Life Goal But No Ice Cream“ (2023) handelt. In Rillen gepresst vier Minuten lang, entwickelte es sich im Bühnenformat – dank zahlreicher Improvisationen und Verfeinerungen – zur mehr als doppelt so langen Suite. Sie liebe diese musikalische Arbeitsweise, erklärte Kid Be Kid anschließend an den gelungenen Auftakt und betonte, dass alles Gehörte ohne Computer oder vorgefertigte Loops wirklich live auf der Bühne entstehe. 
Eine Stunde später wird sie nach demselben Verfahren den Song „News Feed“, der auch vom zweiten Album stammt, ebenfalls in Suite-Länge zelebrieren. Der höre sich eigentlich wie ihr „fluffigster Song“ an, aber sie habe wochenlang geübt und immer noch passiere ihr jedes Mal doch noch irgendein Fehler, stapelte sie im Vorfeld tief. Am Spielboden ist dann aber alles glatt gegangen bei diesem quirlig-vorantreibenden, mit seinen House-Beats Techno-Club-tauglichen Stück, bei dem Kid Be Kid auch das rhythmisch mitklatschende Publikum in den Sound integrierte.

... und engagierte Texte

Kid Be Kids Texte liefern weit mehr als nur zusätzliche Klangfarben in der bunten musikalischen Piano-Synthie-Beatbox-Landschaft, denn sie vermitteln ziemlich unverblümt, aber auch poetisch ihre durchaus kritischen Standpunkte. Bei „Naked Times“ geht es beispielsweise um echte Authentizität und Wahrheit in einer Welt voller Fakes und Scheinwirklichkeiten:

„Naked times, naked times, naked times
No more lies, no more lies, no more lies
Here I am strippin' straight in front of your eyes
No more fake, naked truth in the spotlight
Wear your skin instead of make up
Use your eyes instead of filters
Create art instead of ‘content’
Be a hipster but be honest
Switch the inside to the outside
There's real beauty behind the cover
If we'd all speak the truth
Would we really kill each other?”

Auch die spielerische Leichtigkeit von „News Feed“ transportiert Kritisches, nämlich Gedanken zu süchtig machenden Social Media-Gepflogenheiten, denen man sich, wenn man ihnen einmal verfallen ist, kaum mehr entziehen kann:

 „You'll have to post 5 times a week
At least 5 videos and one pic
If not your audience won’t grow
Of course, for love everybody seeks,
But it makes me sick
To do so, too.
I'm checking the news feed
And nothing is better
Than before
The opposite of what I do need
But just after a second
I wanna get more
I'm checking my timeline
And nothing is better
Than before
And I’m losing my mind
Just after a second
But I wanna get more”

Von „Posers“ über „Move“, „Hold My Hands“ und „Kiss“ zu „Like“

Bei den Bühnenversionen einer weiteren Handvoll Stücke blieb Kid Be Kid näher an den Albumversionen dran. In „Posers“ macht sie sich über jene lustig, die sich mühsam ein zweites Online-Ich erschaffen, dabei verwies sie auch auf das futuristisch anmutende Video zu diesem Song auf YouTube – man findet übrigens praktisch zu allen Kid Be Kid-Songs auch visuelle Umsetzungen im Internet. Das verspielte, abwechslungsreiche „Move“ erwies sich mit seinen Synthie-Schnipseln, Human-Beatbox-Elementen, sowie dem vom Publikum übernommenen rhythmischen Klatschen durchaus als tanztauglich. „Hold My Hands“ klang über weite Strecken wie ein klassischer Love-Song, eine wundervolle Ballade mit sehr expressiven Momenten, in denen Kid Be Kid der Tastatur wahre Klangkaskaden entlockte und ihre soul-getränkte Stimme voll zur Wirkung brachte. „Remove all mirrors and make me stop watching myself“, lautet aber auch hier eine nicht unkritische Kernzeile.
Das bislang unveröffentlichte, nahezu rockige, jedenfalls rhythmisch stark akzentuierte „Kiss“ dürfte sich wahrscheinlich auch als Club-tauglich erweisen. „Like“, das einzige Stück von ihrem ersten Album „Sold Out“ aus dem Jahr 2017, das Kid Be Kid am Spielboden spielte, ist ein unglaublich cool groovender Song, den sie lässig am Bühnenrand sitzend, fingerschnippend begleitete, das Publikum wurde vorher zwecks entsprechender gesanglicher Untermalung instruiert. Kid Be Kids Solo-Gesang und die Human Beatbox-Elemente sind auf verblüffende Weise auf die Zehntelsekunde genau aufeinander abgestimmt, denn beides gleichzeitig lässt sich naturgemäß nicht realisieren. Schließlich führte sie den Song am Klavier zu Ende, garnierte mit Engelschören und kantigem Beatboxen.
Kid Be Kids spannend arrangierte Stücke gleichen nicht selten (poly-)rhythmischen und harmonischen Achterbahnfahrten, wirken aber verblüffender Weise trotzdem immer wie aus einem Guss. Es ist keine ganz einfache Kost, aber von der gibt es ohnehin schon mehr als genug. Sie sei heute zum ersten Mal am Spielboden, dieser „wunderbaren Venue“ gewesen, verabschiedete sich Sandra Lötzsch, aber sie komme hoffentlich bald wieder zurück. Ein Wunsch, dem sich mit Sicherheit ein Großteil des von dieser außergewöhnlichen, virtuosen und einfallsreichen One-Woman-Show begeisterten Publikums gerne angeschlossen hat.

Weitere Konzerte der Jazz&-Reihe am Spielboden Dornbirn
So, 29.12. Jazzorchester Vorarlberg + Strings feat. Philip Yaeger: Egypt Road
Mi, 29.1. The Andy Middleton Quartet
www.spielboden.at

 

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