Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Fritz Jurmann · 19. Jul 2012 · Musik

Erfolgreiche Festspielpremiere zwischen Sein und Schein: Detlev Glanert stößt mit seinem Weltraum-Thriller „Solaris“ in irrationale Traumwelten vor

Freud hätte seine helle Freud‘ daran gehabt, was da am Mittwochabend als Eröffnungspremiere der 67. Bregenzer Festspiele im Haus geboten wurde. Und Franz Kafka nicht minder, schienen doch die skurrilen Gestalten, die sich da in einer Weltraumstation tummeln, direkt den tiefenpsychologisch abgründigen Lehrbüchern und Romanen der beiden entsprungen. Jedenfalls wurde mit dem Science-Fiction-Thriller „Solaris“ des Deutschen Detlev Glanert die zweite Opernuraufführung in der Auftragsserie der Festspiele zu einer der stärksten und aufregendsten Produktionen, die man je hier erlebt hat.

Kein Vergleich zu Weirs „Achterbahn“

Vor allem auch im Vergleich zur faden und belanglosen „Achterbahn“ von Judith Weir im Vorjahr hat nun im zweiten Anlauf David Pountneys Idee gegriffen, die Festspiele neben der Breitenwirkung der Seeaufführung auch als Aufführungsstätte aktuellsten Opernschaffens zu positionieren. Die schon im Vorfeld viel diskutierte Weltraum-Oper „Solaris“ des Deutschen Detlev Glanert unterstreicht auch eindrücklich den zeitgemäßen künstlerischen Anspruch, den die Festspiele heuer mit ihrem Motto „Erinnerungen an die Zukunft“ in den Raum gestellt haben. Dass die renommierte Komische Oper Berlin als Co-Produzent diese Inszenierung übernehmen wird, ist ein Signal für die Richtigkeit dieser Überlegungen. Das Publikum mit der üblichen Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Kultur im ausverkauften Haus benötigte allerdings eine Schrecksekunde von über einer Stunde, um diese „schwere Kost“ zu verdauen, reagierte in der Pause noch sehr gespalten und entschloss sich erst am Ende zu freundlichem Beifall für die Akteure und Jubel für den Komponisten.

Der 51-jährige Hamburger und heutige Wahlberliner Detlev Glanert, der so wie der Bregenzer Richard Dünser bei Hans-Werner Henze studiert hat, ist heute einer der meistgespielten deutschen Komponisten neben Lachenmann und Rihm. Vor sechs Jahren erhielt er den Stückauftrag und griff zusammen mit seinem Librettisten Reinhard Palm auf den heute freilich ziemlich verstaubt wirkenden Roman-Klassiker „Solaris“ von Stanislaw Lem (1961) zurück, den er in den 80-er Jahren gelesen hatte und der 1972 von Andrej Tarkoswkij und 2002 in der Regie von Steven Soderbergh mit George Clooney auch verfilmt wurde. Die Opernbühne als magischer Platz schien ihm wie geschaffen für diese vieldeutig psychologisierende Handlung, die auf einer irrationalen Ebene zwischen Schein und Sein, zwischen Traum und Wirklichkeit nie genau einzuordnen ist.

Das permanente Grauen auf der Weltraumstation

Ein bisschen plakativ und bieder nach „Raumschiff Enterprise“ schaut es schon aus, Christian Fenouillats Bühnenbild einer Weltraumstation, die den fernen Planeten Solaris umkreist. Dorthin wird der Psychologe Kelvin entsandt, um nach dem Rechten zu sehen und den dort aufgetauchten seltsamen Phänomenen auf den Grund zu gehen. Er begegnet dort in einer Atmosphäre der Angst Wissenschaftlern, denen das permanente Grauen fast den Verstand raubt. Kein Wunder: Jeder von ihnen hat seinen eigenen (durchwegs weiblichen) Quälgeist am Hals: eine weit überdimensionierte Schwarzafrikanerin in einem täuschend echten Nacktkostüm, einen Zwerg, eine überspannte alte Frau. Sie alle sorgen immer wieder für handfeste Turbulenzen in einer sich ständig hochschaukelnden Handlung, in der sich die Wissenschaftler mit gefährlichen Experimenten von ihren ungebetenen „Gästen“, wie sie vornehm genannt werden, zu befreien versuchen. Ein Inzest und eine echt nackte Frau sind populistisch angelegt, regen aber heute auf einer Opernbühne längst niemanden mehr auf und sind deshalb dramaturgisch überflüssig

Kelvin begegnet dort aber auch seinem persönlichen Schicksal in der Person seiner Frau Harey, die mit 19 Selbstmord begangen hat. Geplagt von schuldvollen Erinnerungen erliegt der rationale Wissenschaftler mehr und mehr irrationalen Gefühlen, findet dabei aber auch zu sich selber und zur Erkenntnis, die Schuld am Tod seiner Frau einzusehen und anzunehmen. „Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel!“ singt er am Schluss, in einem kitschigen Sternenhimmel hängend, als Quintessenz dieses Werkes um Selbsterkenntnis über eigene Verantwortung, Schuld und Erinnerung. Gerade dieser leise berührende und zutiefst menschliche Ausklang eines oftmals sehr lauten und ungestümen Abends erhöht die Wirkung der Oper,  macht auch manchen überdrehten nostalgischen Weltraum-Klamauk zuvor vergessen und erinnert daran, dass „Solaris“ im eigentlichen Kern eine Liebesgeschichte ist.

Die Musik ist von uneingeschränkter Gültigkeit

Die Inszenierung des Duos Moshe Leiser und Patrice Caurier ist nicht immer ganz auf der Höhe und Komplexität der Handlung, manches hätte gestrafft oder noch deutlicher herausgearbeitet werden können, bei einigen Szenen dagegen ist die Fantasie etwas mit den beiden Regisseuren durchgegangen. Dagegen kann man der musikalischen Umsetzung durch Glanert, der sich grundsätzlich zur Tradition eines Ravel und Mahler bekennt, vorbehaltlos zustimmen. Er hat dafür seine hoch emotionale, poetische Klangfarbenmusik handwerklich geschickt eingesetzt.

Es sind ungeheuer sinnliche Klänge, faszinierend in ihrer Zwielichtigkeit und Vielschichtigkeit, die Harmoniewelten schaffen und wieder verlassen und die auch die gute, alte Tonalität keineswegs scheuen. Und so einfallsreich instrumentiert und abwechslungsreich, dass sie spielend auch diese über zwei Stunden reiner Spielzeit tragen. Zarteste Pastellfarben in den Traumsequenzen kontrastieren mit knalligen Eruptionen, wenn sich auch auf der Bühne die Emotionen entladen. Glanert will Bilder aus dem Kopf deuten und Geschichten erzählen für einen offenen, interessierten Zuhörer, den er nicht verstören, sondern für zeitgenössische Musik gewinnen möchte: „Ich will Musik für Menschen machen, nicht für das Nachtprogramm im Radio“ (wohin die Neue Musik heute gerne verbannt wird).

Überragend: Philharmonischer Chor Prag und Wiener Symphoniker

Stimmen sind Glanert ganz wichtig, deren Qualität und deren Behandlung als Komponist, der sich hier in einem ganz traditionellen Schema sieht. Und das spürt man auch an den klangvollen und sanglichen Melodien in deutscher Sprache, die er seinen Protagonisten immer wieder in die Kehle schreibt. Ein Paradestück in der Umsetzung atemberaubend erdachter Klangballungen liefert dabei der Philharmonische Chor Prag, Einstudierung Lukás Vasilek, der in der Handlung den aus Plasma bestehenden Planeten Solaris darstellt und damit unsichtbar hinter der Bühne, dafür aber klanglich umso präsentiert agiert. Nicht weniger hervorzuheben ist die Leistung des Orchesters, die Intendant Pountney bei der anschließenden Premierenfeier als „outstanding“ bezeichnet. Die Wiener Symphoniker in der traditionellen Orchesterbesetzung erweisen sich als hervorragend disponiert für neue Musik, erzeugen unter der Leitung des ambitioniert und kundig agierenden Markus Stenz eine breite, klanglich gut ausgewogene und differenzierte Klangpalette, hoch konzentriert und auf exzellentem Niveau.

Auch die Solisten stehen dem in nichts nach, vollziehen mit oft expressivem Ausdruck die nicht einfachen Vorgaben. Im Zentrum natürlich der deutsche Bariton Dietrich Henschel, den man von Liederabenden bei der Schubertiade kennt und zuletzt als „Karl V.“ von Krenek in Bregenz. Er ist als Kelvin von Persönlichkeit, Ausdrucksvermögen und Stimmvolumen eine Idealbesetzung. Die Sopranistin Marie Arnet als Harey hat zwar nichts von der im Buch geforderten Unschuld einer 19-Jährigen, gibt aber eine in ihrer metaphysischen Unfassbarkeit nobel zurückhaltende und stimmlich sehr überzeugende Figur. Mit einer Charakterstudie als leicht verrückter Forscher Snaut besticht der bei der Generalprobe noch unpässliche Tenor Martin Koch, die Rolle des herrschsüchtigen, weltfremden Laborchefs Sartorius in seiner ganzen versponnenen Bösartigkeit scheint dem Bregenzer Bass Martin Winkler wie auf den Leib geschrieben. In kleineren Partien ergänzen das Ensemble stimmig Bonita Hyman als Negerin (steht so im Abendprogramm!), Christiane Oertel als alte Frau und Mirka Wagner als Zwerg.

 

Weitere Vorstellungen im Festspielhaus: 22. Juli, 11.00 Uhr; 25. Juli, 19.30 Uhr.