Michael Köhlmeier: „Das Philosophenschiff“
Mensch trifft auf Mensch
Annette Raschner · Feb 2024 · Literatur

„Es gibt Begegnungen, die ein Weiterspinnen im Kopf evozieren“, sagt Michael Köhlmeier. Zu solch einer Begegnung kam es vor mehr als zwanzig Jahren, als die damals bereits 102-jährige Margarete Schütte-Lihotzky den Vorarlberger Schriftsteller zu einer Feier einlud, damit er die Geschichte von Dädalus erzähle. Zweieinhalb Jahrzehnte später hat er die berühmte Erfinderin der Frankfurter Küche zum entfernten Vorbild von Anouk Perleman-Jacob, der Protagonistin seines neuen Romans „Das Philosophenschiff“ gemacht.

„Was niemand weiß, das sollen Sie schreiben“

Zu Romanbeginn wird der Icherzähler, ein Schriftsteller, zu einem prominenten Dinner ins Palais Eschenbach in Wien eingeladen. Er fühlt sich nicht ganz wohl dabei, denn er soll die Geschichte von Dädalus erzählen, die sie, Anouk Perleman-Jacob, im Radio gehört habe. Da seien Dinge vorgekommen, von denen niemand etwas wisse. Der Icherzähler gesteht: „Mir war die Sache peinlich, denn gerade diese Geschichte hatte ich frei erfunden, hatte aber in meiner Radiosendung so getan, als wäre sie überlieferter Mythos.“ Die alte Dame möchte den Schriftsteller aber genau wegen seines „etwas windigen Rufs“ dazu beauftragen, über ihr Leben zu schreiben, denn er verstehe es, seine Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen. „Was niemand weiß, das sollen Sie schreiben, ein Schriftsteller, dem man nicht glaubt, was er schreibt.“ Weniger aus Freude, eher aus einer Art Verpflichtung heraus, besucht er sie in ihrem Haus in Hietzing. „Wir tranken Bier, und sie rauchte. Sie habe vor drei Jahren wieder damit angefangen und hoffe nun, die Zigaretten brächten sie schneller hin zum Tod.“ Doch bis dahin muss er ihr sein Ohr leihen. Täglich, versteht sich.

Fiktion und Fakten

Vor knapp zehn Jahren hat der Hanser Verlag den Roman „Zwei Herren am Strand“ publiziert, in dem Michael Köhlmeier von der Freundschaft zwischen zwei Giganten der Weltgeschichte – Winston Churchill und Charlie Chaplin – erzählt. Bei einem Strandspaziergang erspüren diese deren existenzielle Gemeinsamkeit, den „schwarzen Hund“, gemeinhin bekannt als Metapher für die Depression. Es ist zwar verbürgt, dass sich die beiden gekannt haben und über Jahre in Kontakt standen, aber Michael Köhlmeier ist eben kein Historiker, sondern ein Schriftsteller. Noch dazu einer, der das Spiel mit Wirklichkeit, Historie und Fiktion liebt. Beim neuen Roman, dem „Philosophenschiff“, „wollte ich auf eine besonders freche Art und Weise in ein tiefernstes Thema eingreifen. Ähnlich wie Quentin Tarantino in seinem Film ,Inglourious Basterds‘, wo er Hitler in einem Pariser Kino sterben lässt. Platon hat gesagt: Die Dichter lügen zu viel. Aber ich sage: Ein Dichter darf alles. Schließlich steht das Wort Roman auf dem Buchdeckel.“

„Erzählen ist wie eine Revolution machen“

Anouk Perleman-Jacob kündigt dem Schriftsteller an, für ihren Lebensbericht ordentlich Anlauf nehmen zu müssen, und sie, die 1908 in Sankt Petersburg geboren wurde, beginnt ihre Erzählung im Jahre 1922. Nach Jahren des Wohlstands muss die dreiköpfige Familie (die Mutter eine angesehene Ornithologin, der Vater ein ebenso angesehener Architekt) in eine versiffte Wohnung mit Pisse-, und Ammoniakgestank ziehen. Es ist Bürgerkrieg. „Und ein Bürgerkrieg ist immer auch ein Krieg der Armen und Ungebildeten, der Dummen und Bösartigen gegen die Intelligenzija. Zur Intelligenzija gehörte, wer nicht schwitzte, nicht stank und seine Arbeit im Sitzen tat. Das traf auf meine Eltern zu.“ 1922 ist auch das Jahr, in dem die Familie eines heißen Augusttages von den Bolschewiki abgeholt und verhört wird, um drei Wochen später auf ein Schiff verfrachtet zu werden. Ohne Kenntnis der Gründe und des Ziels. Auf diesem Schiff sind sie nur zu zehnt, unter anderem befinden sich darauf eine Operndiva und ihr Bruder, ein Dirigent, eine Lyrikerin, ein Mathematiker. „Unser Luxusdampfer war ein Philosophenschiff. Eines der sogenannten Philosophenschiffe. Den Begriff hat ein gewisser Sergej Choruschi erfunden, auch er ein Philosoph.“ Die Philosophenschiffe hat es bekanntlich wirklich gegeben, sie waren eine „Erfindung“ von Lenin und Trotzki. Im Herbst 1922 wurden über hundert eventuell unliebsame Intellektuelle außer Landes gebracht. Sie hatten zwei Stunden Zeit, um alles zusammenzupacken. Michael Köhlmeier lässt das letzte Philosophenschiff, das abgeschickt wird, mitten auf dem Finnischen Meerbusen stehen bleiben, um eine weitere Person an Bord zu bringen. Es ist Lenin.

Die ganze Wahrheit kann niemand von niemandem verlangen

Michael Köhlmeiers Roman fußt auf historischen Quellen und Tatsachen. Namen wie beispielsweise jener vom Dichter Nikolai Gumiljow, der wegen des Vorwurfs der Beteiligung an einer konterrevolutionären Verschwörung von Bolschewisten erschossen wurde, sind historisch belegt. Gumiljow lässt er zum Liebhaber von Anouks Mutter im Pariser Exil werden und erzählt von einer Ménage-à-trois. „Sie liebten sich alle drei. Und sie waren glücklich. Ob man das glauben darf?“ Das fragt man sich nicht nur als Leserin, sondern das fragt sich auch der Icherzähler, zumal die alte Dame teils abenteuerliche Sprünge und Abwege nimmt und es – wie der Autor – mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Beispielsweise beim Bericht über ihr erstes Entsetzen als Zehnjährige. Darüber habe sie bislang noch mit niemandem gesprochen, gesteht sie, um an späterer Stelle anzumerken, dass die Details doch etwas anders waren. „Ich habe die Wahrheit ein bisschen von mir weg erfinden wollen. Können Sie das verstehen? Ich bin hundert Jahre alt, und fast alle Gefühle aus meinem Leben habe ich vergessen, aber nicht, was in mir vorging, als ich zehn war, das war das Jahr meines Entsetzens.“

Zurückhaltender Zuhörer

Die hundertjährige Anouk Perleman-Jacob hat mit dem Schriftsteller einen äußerst aufmerksamen und umsichtigen Zuhörer, der nur selten aus der Deckung tritt. An einer Stelle aber gibt er sich klar als Michael Köhlmeier aus, als er über seine Studienzeit in Frankfurt, seine intensive Auseinandersetzung mit Marxismus, Kommunismus und Leninismus, sowie über sein Sympathisieren mit der RAF berichtet und freimütig den Grund dafür nennt: „Die Männer und Frauen sahen aus wie Rockstars, das gefiel mir.“ Anouk Perleman-Jacob besticht durch ihre Klugheit, ihren trockenen Humor und ihren Mut, den sie schon als vierzehnjähriges Mädchen, das auf dem Schiff, das sie und ihre Eltern an ein ihr unbekanntes Ziel bringt, unter Beweis stellt. Von dem sterbenskranken, von sechs Schlaganfällen schwer gezeichneten Lenin wird sie jeden Abend sehnsüchtig erwartet. „Er bat mich, seine Hand zu halten und zu drücken, seine gesunde Hand, damit er zurückdrücken könne. Ich hätte starke Hände, sagte er.“ Was verbindet sie mit dem gefallenen, einst so mordlüsternen Diktator, der in seiner Hilflosigkeit beinahe anrührt? Die beiden repräsentieren die denkbar größten Gegensätze. Er: alt und todkrank, sie: jung und voller Abenteuerlust. Und beide befinden sich innerhalb einer Ausnahmesituation in einer weiteren Ausnahmesituation, in der Mensch auf Mensch trifft.
Michael Köhlmeier spürt in seinem Roman auf ebenso hochintelligente wie hochoriginelle Art und Weise dem nach, was uns Menschen auszeichnet - unsere Angst, unsere Scham, unsere Sehnsucht nach Beziehung und Anerkennung – und er macht deutlich, wie schmal die Grenze zwischen Aufstieg und Fall, Macht und Machtlosigkeit, Herrschaft und Herrschaftsverlust ist. So gesehen kann man aus diesem Buch auch Hoffnung und die Erkenntnis aus der Historie schöpfen, dass noch jeder Diktator gestürzt wurde oder das Zeitliche segnen musste. In Michael Köhlmeiers Roman endet Lenin im Übrigen anders als in Wirklichkeit.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Februar 2024 erschienen.

Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff. Hanser Verlag, München 2024, 224 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-446-27942-1, € 24,70, erscheint am 29.1.24
Lesungen:
Di, 20.2., 19.30 Uhr, Theater Kosmos, Bregenz
Sa, 9.3., 19.30 Uhr, Theater am Saumarkt, Feldkirch

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