London Brew: London Brew Peter Füssl · Mär 2023 · CD-Tipp

Zum 50-Jahre-Jubiläum des legendären Jazz-Rock-Albums „Bitches Brew“ von Miles Davis wollte dessen musikalischer Nachlassverwalter Bruce Lampcov im Sommer 2020 eine exzellente Auswahl aus innovativen Akteuren der jungen und hippen Londoner Jazz-Szene mit einer ganz besonderen Hommage an dieses wegweisende, aber auch heute noch nicht leicht zu konsumierende Jahrhundert-Werk beim London Jazz Festival, in Paris und Amsterdam auftreten lassen. Dem machte – wie so vielem anderen auch – die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung.

So wurde es Dezember 2020, bis Lampcovs Freund, der aus Schweden stammende Produzent und Gitarrist Martin Terefe, nach Beendigung des zweiten englischen Lockdowns den Faden wieder aufnahm und zwölf Musiker:innen für drei Tage zu ausschweifenden, und angesichts der langen Zwangspause besonders beglückenden Sessions in die Nordlondoner The Church Studios einlud. Mit dabei waren die Saxophonistin Nubya Garcia, die von den „Sons of Kemet“ her bekannten Musiker Shabaka Hutchings (Sax, Bassklarinette), Tom Skinner (Drums) und Theon Cross (Tuba), die „The Invisible“-Akteure Dave Okumu (Gitarre) und Tom Herbert (Bass), Keyboarder Nick Ramm vom The Cinematic Orchestra, der DJ und BBC1-Moderator Benji B und der Geiger Raven Bush – um nur die Bekanntesten zu nennen. An den aus insgesamt 12 Stunden an Aufnahmematerial herausdestillierten und auf einem Doppelalbum veröffentlichten acht Stücken mit insgesamt 90 Minuten Länge lässt sich leicht erkennen, dass es bei „London Brew“ keineswegs um eine Art zeitgemäßer Rekonstruktion von „Bitches Brew“ gehen sollte – am augenfälligsten, weil man im Line-up bewusst auf einen Trompeter verzichtete. Vergleichbar sind allerdings der innovative und befreiende, weil grenzenlose Spirit, der über allem schwebt, die unorthodoxen Aufnahmebedingungen und schließlich auch die Auswahl und exzessive Nachbearbeitung im Studio durch kreative Produzenten, die dem Werk nachhaltig ihren Stempel aufdrücken – 1970 in New York war das Teo Macero, fünfzig Jahre später in London Martin Terefe.

Eröffnet wird der mit brodelnden Emotionen, wild mäandernden musikalischen Ideen und befreiten solistischen Ausbrüchen gefüllte Hexenkessel durch das mehr als 23 Minuten lange Titelstück, in dem sich ein breites Spektrum des modalen Jazz abbildet: rasante, von den Drummern  Tom Skinner und Dan See vorangepeitschte Tempoexzesse, meditative Klangexpeditionen mit Geige oder Bassklarinette, sich dehnende elektronische Nebelfelder, rumpelnde Drums zu expressiven Holzbläsern und noisigem Synthi-Geheule sowie bunt zusammengewürfelte, elektronisch verfremdete Farbcluster. „London Brew“ als Zerrbild des Molochs London, der niemals schläft? Sogar die Ruhe scheint spannungsgeladen, weil stets der nächste orkanartige Sturm folgt. „London Brew, Part 2“ startet mit nervösen Drum’n’bass-Patterns zu Okumus verzerrten Gitarrentönen und geht in funky Keyboards, serielle Bläserriffs und meditative, elektronisch überlagerte Klangwolken über. „Miles Chases New Voodoo In The Church“ erinnert vom Titel her natürlich an die Jimi Hendrix-Hommage „Miles Runs The Voodoo Down“ auf „Bitches Brew“, prescht munter drauflos und stellt die mit Pedalen den Klang ihres Saxophons ausgiebig manipulierende Nubya Garcia ins Zentrum. „Nu Sha Ni Sha Nu Oss Ra“ wiederum ist eine gemächlich groovende, von Shabaka Hutchings dominierte Sax-Meditation, für „It’s One of These“ greift er auch zur Klarinette. „Mor Ning Prayers“ startet als freitonales, mit den elektronisch verfremdeten Gitarrentönen Okumus zusammengenähtes Patchwork, das sich zu einem von Theon Cross auf der Tuba grundierten Afrobeat entwickelt, über den zuerst Garcia, dann Okumu und Hutchings ihre Soli legen. Der dreizehnminütige Closer „Raven Flies Low“ ist Raven Bush (seine Tante Kate genießt in einer anderen Musiksparte Kultstatus) und seinem mit Pedalen effektvoll erweiterten, emotionsgeladenen Spiel auf der Violine gewidmet. Das schwillt immer ekstatischer an, bis es abrupt umschlägt und in einer nahezu klassisch anmutenden Konversation mit gestrichenem Bass und E-Gitarre endet.

Ein stimmungsvolles, für manche vielleicht versöhnliches Finale, denn dieses ungemein kraftvolle, überbordend kreative, keinerlei Kompromisse in Richtung Musikmarkt machende Doppelalbum ist definitiv keine Schlummerlied-Sammlung für Zartbesaitete. Theon Cross spricht von einer „unglaublich kraftvollen und bewegenden Erfahrung“, Raven Bush von „so vielen geilen Momenten“, und Dave Okumus Fazit schließt wieder den Kreis zum Ausgangspunkt der ganzen Unternehmung: „In all den Jahren, in denen ich Aufnahmen gemacht habe, war ich noch nie an einem Improvisationsprozess dieses Ausmaßes beteiligt. Die Leichtigkeit und das Gefühl der Unendlichkeit sind sicherlich ein Zeugnis für das Kaliber jedes einzelnen Musikers und für die einzigartige Art und Weise, in der sie die Lektionen, die Miles Davis uns durch seine Aufnahmen und Auftritte vermittelt hat, übernommen haben.“ In der Tat hat man auch jenseits des Ärmelkanals schon länger keine so muntermachende musikalische Orgie erlebt! (ConcordUniversal)

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