Lebensalltag, Porträts und Kriegsbestien als dominante Motive
Klassische Naive Kunst aus der Ukraine im St. Galler Open Art Museum
Karlheinz Pichler · Dez 2023 · Ausstellung

Das auf Outsider-Kunst fokussierte Open Art Museum in St. Gallen präsentiert derzeit unter dem Titel „Die Bestie des Krieges“ einen Querschnitt von traditioneller Naiver Kunst aus der Ukraine. Gezeigt werden rund fünfzig Werke von 23 Künstlerinnen und Künstlern, die teilweise aus zerbombten Museen gerettet wurden und jetzt nach viel betriebenem Aufwand in der Ostschweizer Kantonshauptstadt besichtigt werden können. Kuratiert wird die Schau von Lidia Lykhch von der Rodovid Gallery Kiew.

Im deutschsprachigen Raum schenkt man der Naiven Kunst im allgemeinen nur wenig Beachtung. Auf dem Kunstmarkt spielt sie so gut wie keine Rolle. In der Ukraine hingegen wird sie hoch geschätzt, gilt die Naive Kunst dort doch im wörtlichen Sinne als Volks-Kunst und besitzt eine starke identitätsstiftende Kraft für die Kulturgeschichte des Landes. Darstellungen des Lebensalltags stehen dabei im Zentrum. Auffallend sind die vielfältigen Porträts, speziell das repräsentative Porträt.
In der ukrainischen Naiven Kunst ist die Porträtmalerei sowohl mit den Parsunas verbunden, die sich von der Ikonenmalerei ableiten und einen Zwischenschritt zum realen Porträt darstellen, als auch mit der Tradition zeremonieller Kosakenporträts des 17. und 18. Jahrhunderts. Ebenso haben die ersten Fotostudios in der Provinz mit ihrer eigenen Ästhetik der inszenierten Fotografie einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des Genres. Die Porträts bekannter Meister wie Panas Yarmolenko (1886–1953) und seiner Tochter Yakylyna Yarmolenko (1918–1970er Jahre), Hryhorii Ksionz (1874–1946) und Kateryna Bilokur (1900–1961) bestechen durch ihre Ausdruckskraft. Trotz Stilisierung und Vereinfachung erfassen sie individuelle Charaktere. Sorgfältig ausgearbeitet erscheinen die Porträts kaum noch „naiv“. Grenzen zwischen Realismus, Neue Sachlichkeit und Naive verwischen. Die Menschen auf den Porträts von Panas Yarmolenko (1886–1953) zum Beispiel schauen ernst und wirken verschlossen. Der Künstler aus einem Dorf in der Region Kiew, der auch Bauer war und nur in seiner Freizeit malen konnte, hat sie in ihren schönsten Kleidern dargestellt. Die Frauen tragen häufig Blumenkränze im Haar.
Viele ukrainische Künstlerinnen beginnen mit floralen Wandmalereien an ihren eigenen Häusern, in der Nachbarschaft und bei Verwandten. Benannt nach dem Zentrum der volkstümlichen Kunst in der Ukraine, der Ortschaft Petrykivk, ist die „Petrykivka-Malerei“ – ein dekorativer Stil, der lokale Flora und Fauna zeigt und reich an Symbolik ist. 2013 wurde die Petrykivka-Malerei von der Unesco in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Tetiana Pata (1884–1976), Oryna Pylypenko (1893–1979) und Paraska Pavlenko (1881–1983) stehen in dieser Tradition. Sie benutzen einfache Farben und spezielle Pinsel, z.B. aus Gras.

Maria Prymachenko

Zu den bekanntesten ukrainischen Naiven zählt Maria Prymachenko (1909–1997). Ihre Werkgruppe, die in der Schau zu sehen ist, bildet gleichsam den Aufhänger der Ausstellung im Open Art Museum.
Wie etliche andere Kulturgüter der Ukraine wurden auch mehrere Werke von Prymachenko bereits am zweiten Tag der russischen Invasion in der Ukraine zerstört oder beschädigt. In aller Eile wurde ein Werk der Künstlerin in die Hauptausstellung der 59. Biennale von Venedig 2022 aufgenommen. Ihre Friedenstaube „Dove Has Spread Her Wings and Asks for Peace“ wurde schnell zum Inbegriff der Friedenshoffnung und auf verschiedenen Internetplattformen und Social Media geteilt. Berühmt sind auch ihre fantastischen Bestien, mit denen Prymachenko den Krieg anprangert und aus denen sich auch der Titel dieser Ausstellung ableitet, die übrigens von einem sehr informativen Katalog in ukrainischer, englischer und erstmals deutscher Sprache ergänzt wird.

„Die Bestie des Krieges“
Naive Kunst aus der Ukraine
bis 25.2.2024
Di-Fr 14-18, Sa, So u. Fe 12-17 
Open Art Museum, Zentrum für Outsider Kunst, St. Gallen, Davidstr. 44 
https://openartmuseum.ch 

 

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