Leben unter einem geliehenen Himmel Annette Raschner · Dez 2022 · Theater

Im Mai ist im Sonderzahl Verlag die von Claudio Bechter herausgegebene Werkausgabe von Kundeyt Şurdum erschienen. Sie war lange ersehnt, denn die drei zu Lebzeiten Şurdums veröffentlichten Gedichtbände sind schon seit vielen Jahren vergriffen. Alle seine Texte wurden von seiner Frau Ayşe an der Schreibmaschine abgetippt und geordnet. Ihr zu Ehren hat Daniela Egger ein Theaterstück geschrieben, das im Auftrag des Vorarlberger Landestheaters entstanden ist. „Zwei Frauen, ein Leben“ wurde in der Box uraufgeführt.

1971 war Kundeyt Şurdum gemeinsam mit seiner Frau Ayşe in Folge des damaligen Militärputsches in der Türkei nach Vorarlberg gekommen. Für seine literarische Bedeutung und sein Engagement als Dolmetscher, Lehrer, Nachrichtensprecher und Redakteur wurde er 2003 mit dem Großen Verdienstzeichen des Landes ausgezeichnet. Seine Gedichte schrieb er ausschließlich in deutscher Sprache, die er als Jugendlicher am St. Georgs-Kolleg in Istanbul gelernt hatte. Seine Frau hingegen musste Deutsch erst erlernen, was Anfang der 1970er Jahre gar nicht so einfach war. Im Stück heißt es unter anderem: „Ich könnte über die Ablehnung in den Gesichtern reden, beim Einkaufen, beim Elternabend. Über die bemühte Freundlichkeit, wenn sich jemand besonders offen gab. Am schlimmsten waren die Einheimischen, die mit mir in gebrochenem Deutsch redeten, als hätten sie ihre eigene Sprache vergessen.“ 

Ayşe Şurdum – die große Unterstützerin ihres Mannes

Ayşe Şurdum war frisch verheiratet, als sie mit ihrem Mann nach Vorarlberg zog. Sie war eine angehende Künstlerin, die in Izmir eine private Kunstschule besucht hatte, und sie hatte große Pläne. Sie wollte arbeiten, lernen und studieren, aber in einem Land ohne Universitäten und Deutschkurse musste sie ihre Träume bald begraben. So widmete sich Ayşe Şurdum ganz dem Werk ihres Mannes, der bald gut vernetzt war und etwa mit Leo Haffner und Michael Köhlmeier enge Freunde und Förderer fand.
Das Vorarlberger Landestheater widmet sich in regelmäßigen Abständen Persönlichkeiten aus der Region, um gesellschaftspolitisch relevante Fragen auch für die Gegenwart aufzuwerfen. So gab es in der Vergangenheit bereits Stücke über die Malerin Stephanie Hollenstein und den Dichter und Sozialreformer Franz Michael Felder. Zurzeit entsteht ein Stück über den Vorarlberger Schriftsteller Max Riccabona, geschrieben von Thomas Arzt. Daniela Egger hat sich der Biografie von Ayşe Şurdum angenommen und musste einigermaßen einfallsreich sein, denn diese war zunächst alles andere als enthusiasmiert, als sie erfuhr, dass sie im Mittelpunkt eines Theaterstücks stehen sollte. Erst die Überredungskünste von Daniela Egger, Regisseur Suat Ünaldi und Kulturvermittler Fatih Özcelik überzeugten die zurückhaltende, schüchterne Frau, die es zeitlebens gewohnt war, im Schatten ihres Mannes zu stehen. Egger hat sich im Vorfeld eingehend mit türkischer Literatur und insbesondere der tscherkessischen Kultur, der beide angehörten, beschäftigt, Gespräche mit Ayşe Şurdum und ihrem Sohn Abrek geführt und schließlich das fertige Stück zur Durchsicht vorgelegt. Es gab keinerlei Änderungswünsche.

„Zwei Frauen, ein Leben“

Die Ausgangssituation im Stück ist der Realität geschuldet. Ayşe erwartet nervös und unsicher die Ankunft eines Redakteurs, der sie interviewen möchte. Die Kamerafrau Josy ist bereits da, aber der Redakteur lässt auf sich warten, er steckt im Stau. Ayşe hat überhaupt keine Lust, über sich zu sprechen. Sie möchte eigentlich nur über ihren verstorbenen Mann reden. Über die interkulturelle Literatur, die mit ihm in Vorarlberg erst begonnen habe; über seine Bedeutung für türkische Familien und vor allem über seine Gedichte, in denen er Ereignisse verdichtet hat, „wie Juwelen“. Einige werden in der Inszenierung von der Schauspielerin Hürdem Riethmüller gelesen, andere erklingen in Aufnahmen mit dem Dichter selbst. 
Es sei keine Frage gewesen, Gedichte von Kundeyt Şurdum in das Stück zu integrieren, sagt Daniela Egger. Schließlich gäbe es ohne sie auch kein Theaterstück über Ayşe Şurdum. Daniela Egger und Regisseur Suat Ünaldi trafen sich in dem Wunsch, so wahrhaftig wie möglich über das Leben von Ayşe Şurdum erzählen zu wollen. Doch es gibt eine weitere Figur, die der Poesie des Textes eine weitere Ebene hinzufügt und ein reizvolles Spannungsfeld eröffnet. Ümran Algün spielt eine Frau, die sich plötzlich im Wohnzimmer von Ayşe wiederfindet, ohne zu wissen warum. Sie kommt aus der Türkei, hat sich gerade erst verlobt und wird mit ihrem künftigen Ehemann die Zukunft in Österreich verbringen. Sie ist - die junge Ayşe. 
„Würden Sie sich selbst erkennen, wenn Sie sich begegnen? Einer älteren Version von sich? Viel älter?“ Bis dies passiert, dauert es eine Weile. Aber dann stellt die Junge Fragen, und die Ältere muss sich behaupten und vor allem ehrlich sein. „Es ist kein Fehler, zu gehen. Trotzdem ist der Verlust der Heimat größer, als man denkt. Ein Verlust, der sich allmählich bemerkbar macht.“
Wird die junge Ayşe in ihrem weiteren Leben andere Möglichkeiten vorfinden, um ihre Träume einer Künstlerin zu realisieren, oder ist ihr Schicksal bereits vorbestimmt? Die Frage beschäftigt und arbeitet im eigenen Kopfe weiter. 
Im Premierenpublikum befanden sich in Anwesenheit von Ayşe und Abrek Şurdum viele weitere Menschen aus der türkischen Community, die der rund siebzigminütigen Aufführung genauso kräftigen Applaus spendeten wie alle anderen. Im Übrigen wurden einige Taschentücher verbraucht! 

Weitere Termine:
16./17./20.12. und 12./13./17./18.1., jeweils 19.30 Uhr
www.landestheater.org

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