Knallbunte Individualität im Kollektiv
Das CCN – Ballet de Lorraine begeisterte beim letzten Tanzabend des Bregenzer Frühlings 2025
Peter Füssl ·
Jun 2025 · Tanz
Mit dem von Maud Le Pladec, der neuen Leiterin des CCN – Ballet de Lorraine, choreografierten Stück „Static Shot“ und mit „A Folia“ des portugiesischen Choreografen Marco da Silva Ferreira bestätigte die im Opernhaus von Nancy beheimatete Tanzcompagnie eindrucksvoll ihren exzellenten Ruf in der Welt des zeitgenössischen Tanzes. Beide Choreografien schöpften aus unterschiedlichsten Quellen, aus denen sie ein außergewöhnliches Tanzvokabular entwickelten und damit die Individualität innerhalb des Kollektivs feierten. Die zwei österreichischen Erstaufführungen erwiesen sich im praktisch ausverkauften Bregenzer Festspielhaus als würdiger Abschluss für die fünf exzellenten Tanzabende des heurigen Bregenzer Frühling.
„Static Shot“ – lebensbejahende Erforschung der Ekstase
Am Anfang und am Ende der 2021 uraufgeführten „Static Shot“ lässt die gerade zur künstlerischen Leiterin der Compagnie hochgestiegene französische Choreographin Maud Le Pladec (*1976) die 22 Tänzerinnen und Tänzer in unterschiedlichster, knallbunter, tanztempelaffiner Kleidung in einer Mischung aus Streetwear- und queer angehauchtem Glitter-Look lässig und selbstbewussten Schrittes in langen Reihen hintereinander über eine Art imaginären Fashion-Week-Laufsteg schreiten. Angetrieben von den mit einigen Noise-Fragmenten hinterlegten, sehr flotten, repetitiven und harten elektronischen Techno-Rhythmen von Chloé Thévenin und Pete Harden, die über 25 Minuten hinweg eine Trance-artige Kraft entfalten, entwickelt sich ein intensives Tanzgeschehen, in dem sich Elemente aus Hip-Hop, Voguing, Krumping, Modern Dance oder angedeutetem Cancan ausmachen lassen. Die Compagnie tritt mit großer Intensität im perfekt abgestimmten Kollektiv auf, aus dem sich immer wieder Akteure zu kurzen Solo-Darbietungen herauslösen. Zwei Männer, die sich küssen, eine Frau, die mehrmals ins Lampenlicht tritt und wieder verschwindet – kurze Schlaglichter, die vielleicht auf ganz eigene Geschichten verweisen. Individualität bereichert die energievolle und vergnügliche kollektive Erforschung der Ekstase. Zwischendurch scheint sich – trotz rasanter Rhythmen – alles in Zeitlupe zu bewegen, Maud Le Pladec ließ sich für die Choreographie von Schnitt- und Montagetechniken des Filmes inspirieren, aber auch die Lebensbedingungen während des Entstehungsjahres spielte wohl eine Rolle. „Wir haben dieses Stück inmitten einer Gesundheitskrise geschaffen und es erzählt von einer absoluten Notwendigkeit zu tanzen: Es musste überlaufen – mit vielen Körpern und mit viel Musik“, erzählt Le Pladec in einem Interview und deutet somit wohl an, dass man „Static Shot“ auch als lebensbejahende künstlerische Antwort auf die Corona-Pandemie sehen kann. Übrigens kennen unzählige Menschen die Arbeit der Französin, denn sie choreografierte 2024 die Eröffnungs- und die Schlusszeremonie der Olypmischen Spiele in Paris.
„A Folia“ – Hirtenkult aus dem 15. Jahrhundert trifft auf Clubbing-Tempel
Der 1986 geborene Portugiese Marco da Silva Ferreira kommt eigentlich vom Schwimmsport, hat Physiotherapie studiert und ist verhältnismäßig spät – via Hip-Hop und andere urbane Tanzstile – als Tänzer in die internationale Tanzwelt eingestiegen. So unkonventionell sein Werdegang war, so sind es nun auch seine Choreografien, die ihm einen kometenhaften Aufstieg in der Szene bescherten. Dabei setzt er auf die Konfrontation von scheinbar Gegensätzlichem und auf Grenzüberschreitungen stilistischer, geografischer oder historischer Art. Im 2024 uraufgeführten „A Folia“ lässt er die im 15. Jahrhundert in Portugal entstandenen, auf ekstatische Fruchtbarkeits-Rituale zurückgehenden „Folia“-Tänze auf hochenergetische, zeitgenössische Tanzstile treffen. Daraus entsteht eine kreative Reibung, die sich in einer energiegeladenen Performance entlädt. Die Spannungsfelder zwischen Individuum und Gruppe werden tänzerisch thematisiert, die in der Diversität liegende Kraft wird zur Energiequelle.
Den idealen Soundtrack für die oft in Duos oder kleinen Gruppen aus dem Kollektiv hervortretenden Solist:innen oder die gesamthaft auftretende 22-köpfige Compagnie kreierte der experimentierfreudige, zwischen Elektronik und Moderner Klassik pendelnde Luis Pestana, der die im Jahr 1700 vom Barock-Komponisten Arcangelo Corelli komponierte Violin-Sonate op. 5 Nr. 12, „Variationen über La Folia“, durch seinen elektronischen Fleischwolf drehte. Gerne lässt man sich vom immer mehr ins Ekstatische gleitende Tanzgeschehen mitreißen, das die in buntschillernde Fashion-Kreationen gewandete Hirtinnen- und Hirtenschar in zeitgenössischer Clubbing-Tempel-Atmosphäre entfacht. Auch traumhafte, eindrückliche Bilder bleiben im Gedächtnis haften, etwa eine Tänzerin, die ihren Spitzentanz mit einer Art Dr. Martens mit Plateausohlen an den Füßen zelebriert, oder eine große, wie ein seltsamer Organismus wirkende Gruppe von Akteuren, die mit ihren Armen Blasebälge einer Schmiede nachahmen, wohl um die ohnehin schon aufgeheizten Aktivitäten nochmals zu befeuern. Marco da Silva Ferreira hat durchaus auch ein Händchen für witzige Seitenhiebe in der opulenten tänzerischen Aufarbeitung von Euphorie und Ekstase.
Das Publikum bedankte sich mit frenetischem Applaus bei der energiegeladenen französischen Compagnie. Ende Juni wird der „Bregenzer Frühling“ 2025 mit der Uraufführung des neuesten Stückes von Martin Grubers aktionstheater ensemble, „Ragazzi del mondo – Nur eine Welt“, dann endgültig ins Finale gehen.
aktionstheater ensemble
„Ragazzi del mondo – Nur eine Welt“
Premiere: Do, 26.6.2025
weitere Termine: 27., 28. und 29.6.2025
jeweils 20 Uhr
Theater Kosmos, Bregenz
www.bregenzerfruehling.com