Cirque Inextremiste: Extrêmités – im Freudenhaus Lustenau Peter Niedermair · Aug 2019 · Kleinkunst,Zirkus

Nach den australischen Akrobaten Gravity & Other Myths, die in der Mitte dieses heißen Sommers an drei ausverkauften Abenden das Publikum mit atemberaubender Akrobatik begeisterten, war gestern Abend eine weitere sensationelle dreiköpfige Compagnie zu Gast im Lustenauer Freudenhaus: Der französische Cirque Inextremiste mit einer Aufsehen erregenden Inszenierung „Extrêmités“. Im Französischen hat Extrêmités vielschichtige Bedeutungen. Extremitäten, wie Hände und Füße, kann auch heißen ans äußerste Ende gehen. Im Laufe der 90-minütigen Vorführung wird das Publikum Zeuge vieler dieser Bedeutungen. Extrem ist nicht gleich extrem und hat darüber hinaus auch eine künstlerisch-gesellschaftliche Dimension. Es geht nie um ein stilisiertes Heroisieren, ein Abgleiten in Halbstarken-Gestik, um Oberflächenjargon, sondern um die Vielfalt und Qualität von Beziehungen, um soziale Interaktion. An einem der Protagonisten, Rémy Lecocq, kann man diese Phänomene eingehend beobachten.

Gleich zu Beginn sehen wir Rémy Lecocq, er ist der zentrale Dritte der Akrobatengruppe, der sich selbst in einem Rollstuhl auf die Bühne schiebt, sich selbst-stilisierend auf einem ausgelegten Brett auf den Boden legt, mit einer Urinflasche für Männer hantiert und dabei einen Teil des Flascheninhalts verschüttet. Damit stellt sich ein gewisses Distanzverhältnis zum Publikum ein, der Akteur bricht mit traditionellen Klischees wie Empathie mit dem Menschen im Rollstuhl. Dass ein Akrobat keine Beine für seine Kunst braucht, macht der Artist mehrfach klar. 2005, als er gerade mal 21 Jahre war, stürzte er bei einer Probe während seiner Artistenausbildung, lag einen Monat im Koma, ist seither querschnittgelähmt und braucht einen Rollstuhl. Dieses Anderssein mit seinem „Handicap“ repräsentiert realiter und symbolhaft den Pulsschlag des Stücks. Seine kongenialen Partner sind Basko Markovic und Yann Ecauvre, der als Ersatzmann aus der Compagnie am Tag der Premiere aus Kopenhagen eingeflogen wurde. Sie beide spielen mit Konventionen und Erwartungen, wie man sich denn – politisch korrekt – gegenüber einem Rollstuhlartisten gegenüber verhält. Mit den groben Umgangsformen zu Beginn sind gleich schon die paradox-grotesken Koordinaten aufgespannt. Eine Grundfigur zieht sich von Anfang bis Ende durch. Es geht auf der Folie einer ständig extrem hohen Anspannung im Zusammenspiel in dieser Dreierkonstellation um Balancen, um Gleichgewichte. Die Akteure balancieren sich gestisch-kommunikativ in tänzelnd, vortastenden Bewegungen auf Brettern, die auf rostroten Gasflaschen aufliegend, wippen, schräggestellt sind, als Sprung- und Hüpfbrett funktionieren, als Halteflächen und Klettergerüst.

Die Bühne an sich ist schräg und skurril, man wähnt sich unter grobschlächtigen und gleichzeitig doch auch wieder sympathischen Kerlen, Rowdys, Provos auf einem Hinterhof und schaut ihnen dabei zu, wie sie sich gegenseitig ziemlich ärgern, foppen, ausrichten und auf den Geist gehen. Alle diese Aktionen sind in extremer Akrobatik auf Holzbrettern und Gasflaschen ausgeführt, eine Konstruktion, die nicht fix installiert ist, sondern selbst beweglich bleibt, falsche Bewegungen wären desaströs. Während des gesamten Geschehens gestikulieren sie in höchster Anspannung miteinander, weil sie eben aufeinander angewiesen sind und ohne einander auch nicht können. Es braucht ein Stück von dieser Buber’schen Haltung, der Idee vom Ich, das am Anderen zum Ich wird. Manchmal, wenn die Gasflaschen auf den schräg situierten Brettern ins Rollen kommen, steigt im Publikum der Puls, atemlos-atmungsaktiv, die Luft anhaltend, an der vorderen Sesselkante ripsend, hoffend, dass das alles gut abgeht und niemand aus luftiger Höhe auf den Bühnenboden knallt. Wenn es zu einem Fall käme, fielen alle miteinander, ohne Ausnahme. Ihre Bühnen-Existenz ist permanent von einem potentiellen Zusammenbruch, von einem Scheitern bedroht. Eine einzige falsche Bewegung wäre schrecklich. Man mag sich das gar nicht vorstellen, was wäre, wenn …

Doch die sich auf der Bühne mehr und mehr einspielende Solidarität springt auch auf die Zuschauer über, die Protagonisten beginnen mit dem Publikum zu dialogisieren, lautmalerisch zu gestikulieren oder im Vis-a-Vis deuten, man solle doch beim Schuhe Anziehen mithelfen. „Die Typen sind so was von schräg“, höre ich eine Besucherin hinter mir sagen. Die wilden Kerle bleiben in diesem Laboratorium der Bewegungskunst, einer mit Schnuller, eh klar welcher von den Dreien, weiterhin wild und ungestüm. Versöhntsein stellt sich erst am Ende ein. Dabei scheinen ihre Bewegungen ganz leicht und hochakrobatisch, manchmal, trotz allen Wissens um die Schwerkraft auf diesem Planeten, meint man, Basko Markovic und Yann Ecauvre gingen leichtfüßig, fast schwebend wie über wattebauschige Wolkengebilde. Man hat auch das Gefühl, unter ihnen sei so etwas wie ein unsichtbarer Körpertraumfänger gespannt, ein Netz, das erst diese menschliche Parabel auf die Solidarität, wie es im Programm heißt, schafft. Das Agieren in diesem Dreiklang der Artisten erzeugt auch einen Effekt auf der Zuschauerseite. Sie bleiben bis zum Schluss diese Rabauken, als die wir sie gleich zu Beginn des Stücks wahrnehmen. Doch wir sind ihnen ein ziemliches Stück nähergekommen und begreifen am Ende, wie vielschichtig und fragil dieses Zusammenleben sein kann und welche Bedeutung das Risiko in unserem Leben haben kann. Life without risk is no life, ruft Yann Ecauvre am Ende ins Publikum. Dieses war sehr begeistert von der Premiere in Willi Pramstallers Lustenauer Freudenhaus und hat schön applaudiert. Der Große Zampano des Freudenhauses, Willi Pramstaller, hat im Laufe der letzten Jahre mit seinen etwas anderen Kunst-Schmankerln ein fachkundiges Publikum bestens unterhalten. Die Marktgemeinde Lustenau schätzt das und weiß ihm dies zu danken.

Weitere Vorstellungen von „Extrêmités“ des Cirque Inextremiste im Freudenhaus Lustenau:
30. und 31. August 2019, 20.30 Uhr, Restkarten an der Abendkasse

Teilen: Facebook · E-Mail