Joel Lyssarides / Georgios Prokopiou: „Arcs & Rivers“ Peter Füssl · Nov 2024 · CD-Tipp
Es brauchte wohl den Umweg über Schweden, um der griechischen Bouzouki wieder einmal ein bisschen Aufmerksamkeit im Jazz zu verschaffen. Zwar war Lyssarides‘ Großvater ein griechischer Zypriot, der in den 1940-ern nach Schweden zog, der Pianist kam aber schon in Stockholm zur Welt und erlernte dort an der Königlichen Musikhochschule seine mittlerweile vielfach ausgezeichneten Tastenkünste. Mit der griechischen Musik und speziell mit der Bouzouki befasste er sich erstmals während der Corona-Pandemie näher und fand bei Internet-Recherchen auch den Kontakt zu Georgios Prokopiou. Dieser Bouzouki-Virtuose lebte zwar zufällig ebenfalls in Stockholm, ist aber in Athen aufgewachsen, wo er bereits als Zehnjähriger als Musiker in Bars und Bordellen engagiert war.
Den Klang der Bouzouki haben Nicht-Griechen hauptsächlich vom „griechischen Blues“ Rembetiko, der schon mehrere Revivals erlebte, oder von der grandiosen Musik von Mikis Theodorakis – etwa zum Filmklassiker „Alexis Sorbas“ – im Ohr. Im Jazz hingegen ist das uralte Instrument, dessen heutige charakteristische Form sich allerdings erst vor ca. hundert Jahren herausgebildet hat, nur sehr vereinzelt angekommen – etwa mit Nana Simopoulos, einer griechischstämmigen US-amerikanischen Gitarristin, Sitar- und Bouzouki-Spielerin im Ethno-Jazz und New-Age-Bereich, die schon in den 1980-ern mit Jazz-Cracks wie Charlie Haden, Billy Higgins, Don Cherry, Naná Vasconcelos oder Jim Pepper aufnahm.
So dürften die von Lyssarides und Prokopiou extra für dieses Album komponierten zehn Titeln für die meisten Jazz-Fans eine kleine Expedition in unbekannte und etwas ungewohnte Sound-Welten bedeuten. Aber was für welche! Denn beide sind durch virtuoses Können und eine große stilistische Offenheit geprägt, was sich in den Kompositionen auch niederschlägt. Der Pianist bewegt sich gerne im Spannungsfeld von Klassik und Jazz, arbeitet mit Nils Landgren oder Viktoria Tolstoy ebenso wie mit der Opernsängerin Anne Sofie von Otter und wurde letztes Jahr von Magnus Öström und Dan Berglund eingeladen, beim 30 Jahre e.s.t-Jubiläum die Tastenparts anstelle des verstorbenen Esbjörn Svensson zu übernehmen. Auch Prokopiou bewegt sich längst Genre-übergreifend zwischen Klassik, Folk und Experimentellem. So ist es wenig verwunderlich, dass bereits eine erste gemeinsame Impro-Session der beiden den Großteil jenes Materials lieferte, das – in Stücke gegossen – schließlich innerhalb von nur vier Stunden in der ACT Gallery in Berlin am großartigen, aus dem Besitz Alfred Brendels stammenden Flügel aufgenommen wurde. Es ist eine Art Folklore Imaginaire griechischer Prägung – mollgefärbte Schwermut und sonnenbeschienene Heiterkeit, klassische Eleganz und kneipentauglich Handfestes, eingängige Melodien über griechischen Rhythmen und Phrasierungen, wunderschöne Stimmungsbilder und lustvoll Experimentelles wie das unglaublich rasante und hochdramatische „A Night in Piraeus“, oder das aus folkloristischen Versatzstücken gebaute „Kamilieriko Road“, das phasenweise mit der Intensität des Rock einfährt. Wir haben es hier mit Duo-Kunst auf allerhöchstem Niveau zu tun, weil beide Akteure nicht nur über die genau passende Chemie verfügen, sondern auch ein hundertprozentiges Gespür dafür haben, wann der beste Zeitpunkt ist, den Partner in jenes Rampenlicht zu stellen, in dem man zum genau richtigen Zeitpunkt dann selber wieder glänzen wird. Bestenfalls gerät diese musikalische Interaktion zu einem höchst intensiven, musikalischen Rausch, in den sich die beiden hineinspielen und das Publikum gerne dabei mitnehmen. Und – um ja keinen Irrtum aufkommen zu lassen – das alles ist natürlich stets um Lichtjahre von jenem Bouzouki-Folklore-Kitsch entfernt, von dem man sich vielleicht in der Strandbar beim letzten Griechenland-Urlaub berieseln ließ.
(ACT)
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR November 2024 erschienen.