„Jedes Wort verwenden, als käme keines mehr danach.“
Ingrid Puganigg: „Bleib. Fraktale“
Liberata M · Apr 2025 · Literatur

Ingrid Puganiggs neues Buch mit dem Titel „Bleib. Fraktale“ ist am 10. März im Grazer Verlag edition keiper erschienen. Wenige Tage vor seinem Erscheinen lasen die Schriftstellerin und Schauspielschüler:innen im Rahmen des Tages der Lyrik 2025 in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien Passagen daraus. Liberata M traf Ingrid Puganigg in Wien zu einem Gespräch.

Liberata M: Leser:innen erinnern sich an dich als Bachmannpreisstipendiatin, an dein Debüt als Lyrikerin 1978, deine Hörspiele und viel beachteten Romane aus den 1980er und frühen 90er Jahren wie zum Beispiel „Laila. Eine Zwiesprache“ oder „Hochzeit. Ein Fall“, beide erschienen bei Suhrkamp. Dein erster Roman „Fasnacht“ wurde 1985 mit dir in der Hauptrolle verfilmt und mehrfach preisgekrönt. Da du als literarische Ausnahmeerscheinung für mein Verständnis von Literatur sehr prägend warst, freue ich mich ganz besonders, nach so langer Zeit wieder ein neues Werk von dir zu lesen. Was war es, das den Anstoß dafür gab, wieder in der literarischen Öffentlichkeit aufzutauchen und „Bleib“ zu veröffentlichen? 
Ingrid Puganigg: Der Anlass war der plötzliche Tod meines Mannes Joachim (Anm. Hans-Joachim Metzger, Psychoanalytiker) im Jahre 2022. Ich habe danach geschrieben, um zu überleben, obwohl das jetzt große Worte sind, die ich nicht gerne in den Mund nehme. Vielleicht passt es eher zu sagen, dass ich nach seinem Tod wieder zu schreiben begonnen habe, um nicht verrückt zu werden.
Liberata M: Für den Herausgeber mutet es „wie ein raffinierter Überlebenstrick an, wenn der poetische Wille es gegen die Trauer und die materielle Armut aufnimmt.“ So heißt es im Nachwort. Seit deinem Umzug Anfang der 90er von Vorarlberg nach Deutschland erschien nur mehr 2014 der E-Mail-Roman mit Monika Helfer, der den Titel „Zwei Frauen warten auf eine Gelegenheit“ trägt. Aber hast du nicht immer geschrieben?
Puganigg: Ich konnte nicht schreiben, ich hatte Heimweh. Hannover war nur als Zwischenstation gedacht. In Vorarlberg ist mein Zuhause, da sind meine Töchter geboren und groß geworden. Ich vermisse den Bodensee. Joachims Urnengrab ist auch dort. Den gemeinsam mit Monika veröffentlichten Roman hat ja Monika angeregt. „Theaterblut“ hätte als Titel für den Roman besser zu uns beiden gepasst.

Ohne moralische Fesseln

Liberata M: Ein Kernmotiv in „Bleib“, das zwar der Lyrik zugeordnet wird, aber eine Narration und Nähe zur Prosa aufweist, ist die große Liebe jenseits von Kitsch, Pathos und Verklärung. Fernab von Konventionen und ohne moralische Fesseln. Es dreht sich ums Abschiednehmen und Erinnern frei von Larmoyanz. Der Himmel ist zum Greifen nah, darunter tun sich Abgründe auf – hier ein Zitat: „Bis dass der Tod euch scheidet. Was für ein Satz. Als musizierten Schaufeln.“
Puganigg: Das Bodenständige, Erdige ist mir wichtig. Jemand verglich mein Schreiben mal mit Chagalls Bildern, auf denen das Flirrende und der Zauber immer unten festgehalten sind.
Liberata M: Würdest du selber manche Verse aus deinem prosanahen Langgedicht autobiographisch nennen?
Puganigg: Nein, eher eine Reproduktion des Gleichen. Ein ständiges Fortschreiben. Ins Poesiealbum meiner Schwester habe ich damals geschrieben: „Es darf nicht nur Rosen geben, auch Unkraut muss leben.“
Liberata M: Kommen jetzt die Fraktale aus dem Untertitel ins Spiel, die du als Gattungsbezeichnung gewählt hast? Wenn von Fraktalen gesprochen wird, ist auch oft die Rede von Selbstreferentialität und einer wiederkehrenden ursprünglichen Struktur.
Puganigg: Ja. Mein Mann Joachim hat sich schon früh mit der Chaostheorie und dem aus der Mathematik stammenden Begriff der Fraktale auseinandergesetzt.
Liberata M: Zwischen deiner Literatur und den Fachgebieten des Psychoanalytikers Hans-Joachim Metzger scheint es ohnehin Schnittstellen zu geben, vermutlich sogar Wechselwirkungen. Insbesondere seine Übersetzungen von Werken französischer Philosophen wie Lacan, Derrida, Baudrillard korrelieren aus meiner Sicht mit deinen poetischen Welten und literarischen Figuren, die sich unter anderem konsequent einer Psychologisierung widersetzen, auf keinen Begriff gebracht werden können und fern von jeglicher Art von Moralismus sind, dazu wieder ein Zitat: „Der durchschaubare Mensch. Welche Errungenschaft!“

Vom Musikhören, Schreiben und Lesen

Liberata M: Musik spielt für dich offensichtlich eine große Rolle und klingt in deinem Buch auf verschiedenartige Weise an. Zum Beispiel: „Rhythmus ist älter als alles. Bist Pulsschlag und Atem.“ Welche Bedeutung hat Musik für den Schreibakt selbst? 
Puganigg: Musik ist Droge und Stimulans für mich. Beim Musikhören fallen mir Sätze zu. Es ist ein schaurig-inniges Lied daraus geworden. 
Liberata M: Sätze gibt es bekanntlich ja auch in der musikalischen Formenlehre. Und die antike Lyrik wurde gesungen. Ich finde, dass deine Fraktale bei der Lesung voll zur Geltung gekommen sind. Das vielstimmige Vortragen entlockte den Sätzen verschiedene Tonarten. Das Lauschen im Publikum war spürbar. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Puganigg: Die Schauspielschüler:innen haben wie „alte Kinder“ gelesen. Das meine ich als Kompliment.
Liberata M: Was ist das Wesen des Schreibens für dich?
Puganigg: Schreiben hat viel mit Streichen zu tun. Die Leute sind doch nicht blöd! Die finden selber Kontexte.
Liberata M: In der „renitenten Großkatze“ lässt sich beispielsweise Putin erkennen. Und bei anderen messerscharfen politischen Passagen deines Buches denke ich an kriegstreibende Autokraten oder menschenverachtende, zynische Demagogen, mit all ihren leeren Versprechungen. Das lyrische Ich betreibt aber definitiv keine, wie du an einer Stelle schreibst „durchtrainierte Gesellschaftskritik“, die routiniert auf der Seite der Mächtigen steht. Ich zitiere noch einmal: „Mörder fallen nicht vom Himmel, treten auch nicht lautlos aus Wänden.“
Puganigg: Ich rede nicht gerne über mein Buch. Es kann nur verstanden oder nicht verstanden werden. Ich rede lieber von Fußball oder Schach.
Liberata M: Da muss ich passen. Der Literaturbetrieb hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Ich bin schon gespannt, wie Kritik und Leser:innen auf dein Buch reagieren. Es fällt aus dem Rahmen. Neue Literatur, die wirklich etwas wagt – kompromisslos – ist vielleicht noch rarer geworden. Das Schlusswort soll ein Zitat aus deinem Buch sein. Es sind dies gleichzeitig die letzten Sätze, die du für deine Lesung in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ausgesucht hast. Mir gefällt die lapidare Wendung, die sie nehmen: „Die Welt hat sich verändert, sagen die Leute. Was soll sie sonst tun. “

Liberata M ist das Pseudonym von Manuela Schwärzler, die sich mit der Co-Chefredakteurin der KULTUR den Namen teilt, jedoch als Germanistin in Wien lebt.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR April 25 erschienen.

Ingrid Puganigg: Bleib. Fraktale. keiper lyrik 33, Graz 2025, 200 Seiten, kartoniert, ISBN/EAN 978-3-903575-44-8, €16,95

 

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