Jandln, was das Zeug hält ... ein virtuos-schräger Hochgenuss
Christian Muthspiel & sein ORJAZZTRA VIENNA begeisterten mit einem Ernst Jandl-Jubiläumsprogramm am Dornbirner Spielboden
Wenige Leute sind dermaßen berufen, den genialen Wiener Sprachkünstler Ernst Jandl (1925–2000) anlässlich seines 100. Geburtstages und 25. Todestages mit einer Hommage zu würdigen, wie der als Posaunist bekannt gewordene Komponist und Dirigent Christian Muthspiel. Einmal weil Muthspiel schon in den 1980er Jahren mit dem experimentierfreudigen und unverwechselbaren Original auf der Bühne gestanden ist, aber auch weil er ab 2005 mit seinem mehr als hundertmal aufgeführten und begeistert akklamierten Jandl-Solo-Programm über einschlägige Erfahrungen verfügt, wie kaum jemand sonst. Das aufwändige Projekt „vom Jandln zum Ernst“ spielt nun aber nochmals in einer anderen Liga, weil man angesichts des gleichermaßen einfalls- wie abwechslungsreichen Programmes, das er seinem 17-köpfigen ORJAZZTRA VIENNA zur Stimme von Ernst Jandl maßgeschneidert auf den Leib geschrieben hat, gar nicht weiß, worüber genau man zuerst schwärmen sollte.
Exzellente Kompositionen und Arrangements ...
Christian Muthspiel erklärte, sich mit diesem Projekt – einem wahren Geniestreich – vom aktiven Bühnenleben verabschieden zu wollen. Es scheint, als wollte er für die Kompositionen, in die er 70 Spracheinspielungen von Jandl-Tonmitschnitten einbettete, nochmals aus dem ganzen reichhaltigen Fundus an musikalischen Einflüssen schöpfen, der ihm zur Verfügung steht. Da finden sich Anklänge aus den unterschiedlichsten Epochen der Jazz-Geschichte – vom Ragtime über den Bigband-Swing bis zum Free Jazz, Verweise auf die klassische Musik, ironisch gebrochenes Volkstümliches, Rockiges, Vaudeville-Artiges und musikalisch ganz großes Kino im Breitwandformat. Auf der aufwändig gestalteten und mit allen Original-Texten versehenen, beim Label col legno erschienenen Doppel-CD sind die 22 Tracks zwischen 32 Sekunden und 8:45 Minuten lang. Die Arrangements reichen von Solo-Piano-Passagen, über dialogfreudige Duos bis hin zum überaus opulenten, an klassischen Vorbildern aus den Hochzeiten des Bigband-Swings orientierten, fetten und druckvollen Big-Band-Sound. Dabei wird stets auch auf ein möglichst breites Spektrum an Klangfarben und außergewöhnlichen Klangkombinationen geachtet. Sich in die Gehörgänge Einschmeichelndes trifft auf Dissonantes, Raubeiniges auf fein Ziseliertes – Muthspiel spielt mutig mit rhythmischen Verschiebungen, harmonischer Raffinesse, mit in den Wohlklang eingebetteten Kanten, Ecken und Brüchen. Schönklang trifft auf Schräges und potenziert sich wechselseitig in der Wirkung.
... für ein mit exzellenten Musiker:innen bestücktes ORJAZZTRA VIENNA ...
Womit wir beim ORJAZZTRA VIENNA wären, das die meisterhaften musikalischen Ideen des Bandleaders mit enormer Energie, sichtlicher und hörbarer Spielfreude und einer beachtlichen Könnerschaft zu realisieren versteht. Da verschmelzen 17 Individualist:innen einerseits zu einem harmonischen Orchestersound, liefern andererseits aber quasi auf Knopfdruck imposante Soli ab, die sich nicht selten von maßvollen Anfangstönen ausgehend kraftvoll, kreativ und virtuos ins Furiose steigern. Neben dem Üblichen (auf höchstem Niveau gespielt) zaubern sie aus ihren Instrumenten ohne elektronische Hilfsmittel eine Vielzahl unterschiedlichster Klänge und Soundfarben und bauen uneitel spieltechnische Kabinettstückchen in ihre Improvisationen ein. Jede:r der elf Männer und sechs Frauen – Christian Muthspiel ist stolz auf den hohen Frauenanteil im ORJAZZTRA – steht zumindest einmal solistisch im Rampenlicht. Es wäre ungerecht, hier jemanden namentlich herauszupicken, da alle gleichermaßen zu begeistern wussten: Dominik Fuss, Lorenz Raab und Gerhard Ornig an Trompete und Flügelhorn, die Saxophonist:innen/Klarinettist:innen Stephanie Schoiswohl, Florian Bauer, Ilse Riedler, Patrick Dunst, Robert Unterköfler und Yvonne Moriel, die Posaunist:innen Alois Eberl, Daniel Holzleitner und Christina Lachberger, Judith Ferstl am Kontrabass, Marc Mezgolits am E-Bass, Marton Juhasz und András Dés an Drums und Percussion und – last but not least – die omnipräsente Stephanie Weninger am Piano. Und ganz nebenbei brachten sie sich auch noch in kleinen Sprech- oder Gesangspassagen ein.
... zu Ernst Jandls ausgefeilten und kritischen Sprachkunstwerken
Viele aufgeschlossene Literaturinteressierte der Boomer-Generation nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die experimentierfreudigen Sprachkunstwerke Ernst Jandls als witzig-unorthodoxes, gesellschaftskritisches, leicht zugängliches und dennoch tiefgründiges Überraschungspaket, als eine Art bewusstseinserweiternde Droge literarischer Art. Die wurde am besten live bei einer Lesung des Wieners konsumiert, der seine unkonventionellen, grammatikalisch eigenwilligen, zwischen Alltagssprache, Kauderwelsch, Konkreter Poesie und Lautmalerei angesiedelten Texte nicht nur vortrug, sondern lebte. Gottseidank existieren einige Tonträger mit vom großen Meister höchst persönlich interpretierten Texten, Christian Muthspiel hatte aber auch Zugriff auf das Archiv von Ö1, in dem viele Stunden an Sprachaufzeichnungen, darunter auch Interviews mit Jandl, überdauert haben.
Live hält sich das ORJAZZTRA genau an den ausgeklügelten, auf den zwei CDs vorgegebenen Ablauf und gliedert die 21 Stücke nach inhaltlichen Schwerpunkten. Dass gleich am Anfang das biblisch konnotierte „him hanfang war das wort“ steht, darf man ruhig als Verweis auf die Bedeutsamkeit dieses Projekts deuten, zusammen mit „jee – suss“ und „zweierlei handzeichen“ und dem Interview-Ausschnitt „erziehung, katholisch“ bildet es aber auch einen religions- bzw. kirchenkritischen Auftakt. Mit „sein das heuten tagen“ eröffnet Jandl einen ironischen Blick in die österreichische Seele, „im reich der toten“, „zertretener mann blues“ und „wien:heldenplatz“ fußen auf Kriegserinnerungen und sind beinharte Abrechnungen mit der damals nur oberflächlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Einige Texte, von denen es keine passenden Tonkonserven gibt, etwa das bissige Dialektgedicht „drottl“, deklamiert Muthspiel live – wie der Verfasser einstmals selber – ohne Netz und doppelten Boden. Und das abschließende „demokratie“ („unsere ansichten gehen als freunde auseinander“) möchte man einigen Diktatoren, Möchtegerndikatoren, Autokraten und Demokratiegefährdern, die gerade versuchen, weltweit das Rad der Geschichte um ein paar Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zurückzudrehen, auf die Stirn tätowieren. In Spiegelschrift, damit sie es jeden Morgen lesen können. Folglich ist es auch schade, dass die Handvoll Jandl-Gedichte, die den Weg in die Schulbücher gefunden hatte, aus diesen großteils wieder gestrichen wurde.
Dieses gleichermaßen anspruchsvolle wie unterhaltsame Projekt von Christian Muthspiel & ORJAZZTRA VIENNA ist jedenfalls ein dankenswerter und gelungener Versuch, Ernst Jandl und sein epochales literarisches Werk der Vergessenheit zu entreißen. Dementsprechend reagierte auch das zahlreich erschienene Publikum am Dornbirner Spielboden mit begeistertem Applaus.
Eine persönliche Anmerkung
Als Initiator und Kurator der Jazz&-Reihe am Spielboden durfte ich in den 15 Jahren von 1999 bis 2013 Christian Muthspiel mit seinem umfangreichen und vielgestaltigen Oeuvre zu den „Stammgästen“ zählen. Sein Debüt hatte er hier 2001 mit seinem Tentett Motely Mothertongue, in dem die drei Sängerinnen Gail Anderson, Anna Clare Hauf und Cornelia Horak auf hochkarätige Protagonisten der heimischen Jazzszene trafen (Christian Muthspiel, Wolfgang Muthspiel, Benjamin Schmid, Gerald Preinfalk, Peter Herbert, Alex Deutsch, Matthieu Michel). 2002 wandelte er gemeinsam mit seinem Bruder Wolfgang auf den Spuren des legendären Duos Pepl/Pirchner und feierte als einer der Solisten des Vienna Art Orchestra dessen 25-Jahr-Jubiläum „art&fun.25“ – auch in Dornbirn. Im Trio mit dem Vibraphonisten Franck Tortiller und dem Kontrabassisten Georg Breinschmid ging es dann nochmals um Kompositionen Werner Pirchners (2007). 2010 trat Christian Muthspiel an dem ihm gewidmeten Abend des proFILE Jazz-Festivals mit drei Projekten auf: Mit seinem gefeierten Ernst Jandl-Soloprogramm, im Duo mit Franck Tortiller und mit der sechsköpfigen Christian Muthspiel’s Yodel Group mit Bobby Previte (dr), Jerome Harris (b), Franck Tortiller (vib), Matthieu Michel (tp, flh) und Gerald Preinfalk (sax cl). Und schließlich brachte er 2013 mit seinem Quartett Franck Tortiller, Mathieu Michel und den legendären US-Bassisten Steve Swallow für seine John Dowland-Hommage an den Spielboden. Dort gastierte er auch mit seinem fabelhaften ORJAZZTRA erstmals 2021, und dass er sich nun mit diesem kreativen Geniestreich in Form einer exzellenten Jandl-Hommage endgültig von der Bühne verabschiedet, macht den Abschied von Christian Muthspiel nicht unbedingt leichter. Wenigstens eröffnete er im Gespräch die Aussicht, dass er nach einer längeren, voraussichtlich in Griechenland genossenen Auszeit, wieder komponieren werde. Möge ihm rasch langweilig werden. Aber das konsequente Durchziehen seiner Lebensplanung verdient auch Respekt, und in diesem Sinne: Danke für die vielen vergnüglichen, spannenden, witzigen, interessanten und ereignisreichen Stunden voller musikalischer Höhenflüge und „Good luck“, lieber Christian!